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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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alle seine Sachen verschwunden. Auch sein Namensschild an der Tür war weg. Ich ging ins Büro des Heimleiters und erkundigte mich.
    »Er ist ausgezogen«, erklärte er. »Sie werden das Zimmer vorläufig allein bewohnen.«
    Es drängte mich zu erfahren, was passiert war, aber der Leiter weigerte sich, mir etwas zu sagen. Er war ein Spießer, für den es kein größeres Vergnügen gab, als alle Fäden in der Hand zu halten und andere im unklaren zu lassen. Das Eisbergbild zierte noch eine Zeitlang die Wand, bis ich es abnahm und durch Poster von Jim Morrison und Miles Davis ersetzte. Nun sah das Zimmer ein bißchen mehr nach mir aus. Von dem Geld, das ich mit meinen Jobs verdient hatte, kaufte ich mir eine kleine Stereoanlage. Abends trank ich etwas und hörte Musik. Hin und wieder dachte ich an Sturmbandführer, aber wohnte sehr gern allein.
    Montags von zehn bis halb zwölf hatte ich eine Vorlesung, die sich »Theatergeschichte II« nannte. An diesem Tag war es um Euripides gegangen. Anschließend ging ich in ein nur zehn Minuten zur Fuß entferntes kleines Restaurant und aß ein Omelett mit Salat. Das Restaurant, das von einem wortkargen Ehepaar mit Unterstützung einer Teilzeitkellnerin betrieben wurde, lag in einer stillen Nebenstraße und war etwas teurer als die Mensa, aber man konnte dort in Ruhe essen, und die Omeletts waren sehr gut. Ich saß allein am Fenster und aß, als vier Studenten das Restaurant betraten, zwei Männer und zwei Frauen, alle gut angezogen. Sie setzten sich an einen Tisch an der Tür, lasen die Speisekarte, besprachen die Möglichkeiten, bis schließlich einer die Bedienung rief und bestellte.
    Inzwischen war mir aufgefallen, daß eines der Mädchen immer wieder in meine Richtung schaute. Sie hatte extrem kurzes Haar, trug eine dunkle Sonnenbrille und ein weißes Minikleid aus Baumwolle. Ihr Gesicht kam mir nicht bekannt vor, und so aß ich einfach weiter. Schließlich stand sie auf und kam zu mir herüber. Eine Hand auf die Kante meines Tischs gestützt, fragte sie: »Sie sind doch Tōru Watanabe, oder?«
    Erst jetzt hob ich den Kopf und betrachtete sie genauer, aber ich konnte mich nicht erinnern, sie je gesehen zu haben, obwohl sie ein Mädchen war, das auffiel. Andererseits gab es an der Uni nicht viele Leute, die meinen Namen kannten.
    »Darf ich mich einen Moment setzen?« fragte sie. »Oder erwarten Sie noch jemanden?«
    Immer noch unsicher, schüttelte ich den Kopf. »Nein, niemanden. Bitte.«
    Sie zog einen scharrenden Stuhl unter dem Tisch hervor, setzte sich mir gegenüber und starrte mich durch ihre Sonnenbrille hindurch an. Dann blickte sie auf meinen Teller.
    »Sieht gut aus.«
    »Schmeckt auch gut. Pilzomelett mit Salat aus grünen Erbsen.«
    »Ach, schade«, sagte sie. »Jetzt habe ich schon was anderes bestellt, aber nächstes Mal nehme ich das.«
    »Was hast du denn bestellt?«
    »Makkaroni-Gratin.«
    »Makkaroni-Gratin ist auch nicht schlecht«, tröstete ich sie. »Übrigens, woher kennen wir uns? Ich kann mich nicht erinnern.«
    »Na, aus Euripides«, sagte sie. »Electra. ›Kein Gott hört auf der Armen Ruf.‹ Die Vorlesung ist doch gerade erst zu Ende.«
    Ich musterte sie eingehend, aber erst als sie die Sonnenbrille abnahm, dämmerte es mir. Ein Erstsemester aus der Vorlesung über Theatergeschichte. Wegen ihrer neuen Frisur hatte ich sie nicht erkannt.
    »Ach ja, hattest du vor den Sommerferien nicht längeres Haar?« Ich zeigte mit der Hand auf eine Stelle etwa zehn Zentimeter unterhalb meiner Schulter.
    »Stimmt, aber dann habe ich mir in den Ferien eine Dauerwelle machen lassen, und das sah so furchtbar aus, daß ich mich am liebsten umgebracht hätte – wie eine Wasserleiche mit Seetang im Haar. Da dachte ich, bevor ich mich umbringe, kann ich’s auch ganz abschneiden. Zumindest ist es so schön kühl.« Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre Bürstenfrisur und lächelte mich an.
    »Sieht gar nicht schlecht aus«, sagte ich, den Mund voller Omelett. »Zeig mal von der Seite.«
    Sie wandte mir ihr Profil zu und hielt die Pose für ein paar Sekunden.
    »Stimmt, steht dir prima. Du hast einen schön geformten Kopf und hübsche Ohren«, sagte ich.
    »Ich finde eigentlich auch, daß es gar nicht schlecht aussieht. Aber den Männern gefällt’s nicht. Alle sagen, ich sehe aus wie eine Erstklässlerin oder ein KZ-Häftling. Warum stehen Männer immer auf Frauen mit langen Haaren? Das ist doch faschistoid. Beschissen! Warum meinen die Typen bloß, Mädchen mit

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