Naokos Laecheln
rauskriegen können. Das mit dem Krankenhaus erkläre ich dir ein andermal. Mir ist jetzt nicht danach. Entschuldige.«
»Macht doch nichts. Ich wollte nicht neugierig sein.«
»Bist du ja auch nicht. Ich bin nur so erledigt. Wie ein Affe im Regen.«
»Dann wär’s doch besser, du fährst nach Hause und schläfst dich aus.«
»Nein, ich will jetzt nicht schlafen. Gehen wir ein bißchen spazieren?«
Sie führte mich zu ihrer alten Schule, die nicht weit vom Bahnhof Yotsuya entfernt lag.
Als wir am Bahnhof vorbeikamen, dachte ich an Naoko und unsere endlosen Wanderungen. Hier hatte alles angefangen. Wenn ich Naoko an jenem Sonntag im Mai nicht in der Bahn begegnet wäre, sähe mein Leben jetzt wohl anders aus, dachte ich. Doch dann änderte ich meine Meinung, nein, auch wenn ich sie nicht getroffen hätte, wäre schließlich doch alles genauso gekommen. Es war uns wohl bestimmt gewesen, einander zu begegnen, und wenn wir uns nicht dort getroffen hätten, dann bestimmt an einem anderen Ort. Ich hätte diesen Gedanken mit nichts belegen können; er beruhte nur auf einem Gefühl.
Midori Kobayashi und ich setzten uns auf eine Parkbank mit Blick auf das Schulgebäude. Die Mauern waren mit Efeu überwachsen, und Tauben hockten in den Erkern und ruhten sich aus. Der alte Kasten hatte Charme. Eine große Eiche stand im Hof, und an eine Seite stieg kerzengerade weißer Rauch auf, den das spätsommerliche Licht weich und bauschig erscheinen ließ.
»Weißt du, woher der Rauch da kommt?« fragte mich Midori auf einmal.
»Keine Ahnung.«
»Da werden Binden verbrannt.«
»Aha.« Eine bessere Bemerkung fiel mir dazu nicht ein.
»Damenbinden, Tampons und so was«, sagte Midori grinsend. »Alle werfen sie in die Behälter in der Toilette. Immerhin ist es ja eine Mädchenschule. Der Hausmeister sammelt sie dann ein und verbrennt sie in der Verbrennungsanlage. Daher kommt der Rauch.«
»Wenn man das weiß, sieht er irgendwie unheimlich aus«, sagte ich.
»Und wie. Das habe ich auch immer gedacht, wenn ich vom Klassenzimmerfenster aus den Rauch aufsteigen sah. Unheimlich. Auf diese Schule – Mittelstufe und Oberstufe zusammengenommen – gehen fast tausend Mädchen. Natürlich haben ein paar davon noch nicht ihre Periode. Also sagen wir neunhundert, und wenn ein Fünftel von den neunhundert gleichzeitig menstruiert, macht das einhundertachtzig Mädchen. Das bedeutet, täglich werfen einhundertachtzig Mädchen ihre Binden in die Behälter.«
»Donnerwetter. Auch wenn ich nicht ganz sicher bin, ob deine Zahlen stimmen.«
»Auf jeden Fall sind es viele. Hundertachtzig Mädchen! Wie das wohl ist, das ganze Zeug einzusammeln und zu verbrennen?«
»Keine Ahnung.« Woher sollte ich das wissen? Wir beobachteten noch eine Weile den weißen Rauch.
»Eigentlich wollte ich überhaupt nicht auf diese Schule gehen.« Midori schüttelte kurz den Kopf. »Ich wollte auf eine ganz normale staatliche Oberschule gehen. Eine normale Schule mit normalen Leuten. Wo ich fröhlich und sorglos hätte aufwachsen können. Aber aus Geltungsbedürfnis haben meine Eltern mich dahin geschickt. So kann’s einem gehen, wenn man gut in der Grundschule ist. Die Lehrer haben gesagt, mit den Noten könnte sie doch die und die Schule besuchen. Also haben sie mich hier reingesteckt. Die ganzen sechs Jahre, die ich auf diese Schule gegangen bin, hatte ich nur einen Gedanken: ›Hoffentlich komme ich bald hier raus.‹ Und am Schluß hab ich dann auch noch eine Urkunde gekriegt, weil ich nie gefehlt habe und keinmal zu spät gekommen bin. Und das, obwohl ich die Schule gehaßt habe. Kapiert?«
»Eigentlich nicht.«
»Eben weil ich die Schule bis auf den Tod gehaßt habe, habe ich keinen Tag gefehlt. Es wäre mir wie eine Niederlage vorgekommen. Nur eine Niederlage, und ich wäre am Ende gewesen. Ich hatte Angst, ich würde dann unaufhaltsam abgleiten. Einmal habe ich mich mit neununddreißig Grad Fieber in die Schule geschleppt. Als der Lehrer mich fragte, ob ich krank sei, habe ich es abgestritten. Dafür habe ich die Urkunde bekommen und ein Französischwörterbuch – und an der Uni prompt den Deutschkurs belegt. Ich will dieser Schule nichts verdanken. Das ist mein voller Ernst.«
»Warum hast du die Schule denn so gehaßt?«
»Bist du etwa gern zur Schule gegangen?«
»Nicht besonders, aber ich habe die Schule auch nicht gehaßt. Ich war auf einer ganz gewöhnlichen staatlichen Schule, aber ich hab mir nie groß Gedanken darüber
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