Naokos Laecheln
Theatergeschichte II?«
»Klar.«
»Dürfte ich mir deine Aufzeichnungen vielleicht mal leihen? Ich hab zweimal gefehlt und kenne sonst keinen in dem Seminar.«
»Natürlich.« Ich holte mein Heft aus der Tasche, und, nachdem ich mich versichert hatte, daß darin nichts Privates stand, reichte ich es Midori.
»Danke schön. Kommst du übermorgen ins Seminar?«
»Klar.«
»Treffen wir uns doch um zwölf hier, und ich lade dich zum Mittagessen ein. Dir wird doch nicht schlecht oder so, wenn du beim Essen nicht allein bist?«
»Nein, aber du brauchst mich nicht einzuladen, nur weil ich dir mein Heft leihe.«
»Kein Problem. Ich lade gern Leute ein. Wollen wir’s so machen? Schreib’s dir lieber auf, damit du’s nicht vergißt.«
»Ich vergesse es schon nicht. Übermorgen um zwölf, hier. Midori. Grün.«
Vom anderen Tisch rief jemand: »Midori, komm endlich, dein Essen wird kalt.«
Midori ignorierte es. »Hast du schon immer so geredet?«
»Ich glaub ja. Ich hab bisher nie darauf geachtet«, antwortete ich. Es hatte wirklich noch nie jemand etwas Besonderes an meiner Art zu reden gefunden.
Sie schien über etwas nachzudenken, dann stand sie lächelnd auf und ging an ihren Tisch zurück. Als ich kurz darauf das Restaurant verließ, winkte Midori mir zu. Die drei anderen würdigten mich kaum eines Blickes.
Am Mittwoch um zwölf war im Restaurant nichts von Midori zu sehen. Ich wollte bis zu ihrem Kommen zuerst nur ein Bier trinken, aber es wurde so voll, daß ich bestellte und alleine aß. Um fünf nach halb eins war ich fertig, aber Midori war immer noch nicht aufgetaucht. Ich zahlte und setzte mich dem Restaurant gegenüber auf die Steinstufen eines kleinen Schreins, um nach dem Bier wieder einen klaren Kopf zu bekommen und auf Midori zu warten. Um eins gab ich es auf, kehrte zur Universität zurück und ging in die Bibliothek. Um zwei besuchte ich meinen Deutschkurs.
Nach dem Unterricht versuchte ich im Sekretariat auf der Teilnehmerliste von Theatergeschichte II Midoris Namen zu finden. Es gab nur eine Midori – Midori Kobayashi. Dann stöberte ich in der Studentenkartei und entdeckte die Adresse und Telefonnummer einer Midori Kobayashi, die sich 1969 eingeschrieben hatte. Sie wohnte im Stadtteil Toshima bei ihren Eltern. Ich ging in eine Telefonzelle und wählte die Nummer.
»Buchhandlung Kobayashi, guten Tag«, antwortete eine Männerstimme. Buchhandlung Kobayashi?
»Entschuldigen Sie, könnte ich bitte mit Midori sprechen?«
»Sie ist im Augenblick nicht da.«
»Ist sie zur Uni gegangen?«
»Nein, sie ist wahrscheinlich im Krankenhaus. Wer spricht da, bitte?«
Statt meinen Namen zu sagen, bedankte ich mich und legte auf. Im Krankenhaus? Ob sie einen Unfall gehabt hatte oder krank geworden war? Aber die Stimme des Mannes hatte ganz alltäglich und unaufgeregt geklungen. Sein »Sie ist wahrscheinlich im Krankenhaus« hatte er so beiläufig gesagt, wie er etwa »Sie ist im Fischgeschäft« hätte sagen können. Ich stellte Spekulationen darüber an, bis es mir langweilig wurde; dann ging ich zurück ins Wohnheim, legte mich aufs Bett und las Lord Jim von Conrad zu Ende. Anschließend brachte ich den Band Nagasawa zurück, von dem ich ihn mir geliehen hatte.
Nagasawa wollte gerade zum Essen gehen, also gingen wir zusammen zum Abendessen in die Kantine.
»Wie war die Prüfung fürs Auswärtige Amt?« fragte ich. Die zweite Prüfung für die Aufnahme in den Auswärtigen Dienst hatte im August stattgefunden.
»Normal«, antwortete Nagasawa unbeteiligt. »Man macht sie und besteht sie. Gespräche, Interviews… nicht schwerer, als ein Mädchen rumzukriegen.«
»Leicht also. Wann erfährst du das Ergebnis?«
»Anfang Oktober. Wenn ich bestanden habe, lade ich dich ganz groß ein.«
»Wer schafft es denn so bis zur zweiten Runde? Alles solche Überflieger wie du?«
»Quatsch. Ein Haufen Idioten. Idioten oder Perverse. Fünfundneunzig Prozent der Leute, die in den Staatsdienst wollen, sind Abschaum. Ohne Witz. Das sind halbe Analphabeten.«
»Warum willst du dann zum Auswärtigen Amt?«
»Aus allen möglichen Gründen«, erklärte Nagasawa. »Zum einen würde ich gern im Ausland arbeiten. Aber vor allem möchte ich meine Fähigkeiten testen. Und das will ich im größten Unternehmen tun, das es gibt – dem Staat. Ich will herausfinden, wie hoch ich aus eigener Kraft in dieser absurden, gigantischen Bürokratie steigen kann. Verstehst du?«
»Hört sich an wie ein Spiel.«
»Genau. Es ist
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