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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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auf, und Midori kam in einem dunkelblauen Sporthemd, einer cremefarbenen Baumwollhose und ihrer Sonnenbrille in den Raum. Nachdem sie dem Professor entschuldigend zugelächelt hatte, setzte sie sich neben mich, holte mein Heft aus ihrer Schultertasche und gab es mir. Darin lag ein Zettel: »Es tut mir leid wegen Mittwoch. Bist Du sauer?«
    Die Vorlesung war schon zur Hälfte vorbei, und der Professor zeichnete gerade die Skizze eines griechischen Theaters an die Tafel, als wieder die Tür aufging und zwei behelmte Studenten hereinkamen. Sie sahen wie ein Komikerduo aus – der eine groß, mager und blaß, der andere klein, rund und dunkel mit einem Bart, der wie angeklebt wirkte. Der Lange trug einen Packen Flugblätter unter dem Arm. Der Kleine ging auf den Professor zu und erklärte, sie würden die zweite Hälfte der Stunde für eine politische Diskussion nutzen. Die heutige Welt sei voll weit dringlicherer, relevanterer Probleme als die der griechischen Tragödie, sagte er. Es klang nicht wie eine Forderung, sondern eher wie eine schlichte Feststellung. »Ich bin zwar nicht der Ansicht, daß es auf der Welt weit dringlichere und relevantere Probleme gibt als die der griechischen Tragödie, aber auf mich werden Sie ohnehin nicht hören. Tun Sie also, was Ihnen beliebt«, erwiderte der Professor. Dann stützte er sich auf die Tischkante, setzte die Füße auf, nahm seinen Stock und hinkte aus dem Hörsaal.
    Während der Lange die Flugblätter verteilte, trat der Dicke auf das Podium und fing an zu reden. Das Flugblatt bestand aus den üblichen Parolen: »Nieder mit der Manipulation bei den Wahlen zum Unipräsidenten« – »Mobilisierung aller Kräfte für den Uni-Streik« – »Nieder mit dem imperialistischen Bildungssystem«. Gegen den Inhalt hatte ich nichts, aber der Stil war bar jeglicher Überzeugungskraft, weder vertrauenserweckend noch mitreißend. Und die Rede des Dicken war noch schlimmer. Immer die alte Leier. Die gleiche Melodie mit wechselndem Text. Meiner Meinung nach war nicht der Staat der wahre Feind dieser Leute, sondern ihr Mangel an Phantasie.
    »Komm, wir verschwinden«, sagte Midori.
    Ich nickte und stand auf. Als wir den Hörsaal verließen, sagte der Dicke etwas zu mir, das ich nicht verstand. Midori winkte ihm zu und rief »Tschüß«.
    »Ob wir jetzt Konterrevolutionäre sind?« fragte sie mich draußen. »Vielleicht hängen sie uns nach dem Sieg der Revolution an Telefonmasten.«
    »Davor würde ich aber gern noch zu Mittag essen«, entgegnete ich.
    »Gute Idee. Es gibt da ein Lokal, in das ich gern mit dir gehen würde, es ist aber ein bißchen weit. Hast du Zeit?«
    »Ja, ich habe erst um zwei wieder ein Seminar.«
    Wir fuhren mit dem Bus nach Yotsuya, und sie führte mich in ein schickes Obentō-Restaurant, in dem die Menüs in eleganten traditionellen Lackkästen serviert wurden. »Schmeckt toll«, lobte ich.
    »Außerdem ist es preiswert. In der Schulzeit habe ich öfter hier zu Mittag gegessen. Meine ehemalige Schule liegt ganz in der Nähe. Die waren sehr streng; wir mußten uns rausschleichen, wenn wir hier essen wollten. Wer sich erwischen ließ, flog von der Schule.«
    Ohne die Sonnenbrille wirkten Midoris Augen etwas müder als beim letzten Mal. Ständig spielte sie mit dem silbernen Armband an ihrem linken Handgelenk oder kratzte sich mit dem kleinen Finger im Augenwinkel.
    »Bist du müde?« fragte ich sie.
    »Ein bißchen. Ich schlafe nicht genug, bin zu beschäftigt. Aber es geht schon, mach dir keine Gedanken. Übrigens tut es mir leid wegen letztem Mal. Mir kam an dem Morgen plötzlich was dazwischen. Ich hätte in dem Restaurant angerufen, aber ich wußte nicht mehr, wie es hieß, und deine Telefonnummer hatte ich auch nicht. Hast du lange gewartet?«
    »Kein Problem. Ich habe viel Zeit.«
    »Sehr viel?«
    »Ich würde dir gern etwas davon abgeben, damit du schlafen kannst.«
    Midori stützte die Hand in die Wange und lachte mich an. »Du bist wirklich nett.«
    »Nicht nett, ich habe nur Muße«, entgegnete ich. »Übrigens habe ich an dem Tag bei dir angerufen, und jemand hat mir gesagt, du seist im Krankenhaus. War etwas nicht in Ordnung?«
    »Bei mir zu Hause?« Zwischen ihren Brauen bildete sich eine kleine Falte. »Woher hattest du denn meine Nummer?«
    »Aus dem Sekretariat natürlich. Da kann jeder nachgucken.«
    »Aha.« Sie nickte ein paarmal und spielte wieder mit ihrem Armband. »Auf die Idee wäre ich nie gekommen. Dort hätte ich ja auch deine Nummer

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