Naokos Laecheln
Stunde.
Kurz vor elf kam der Zug in Kyotō an. Naokos Anweisungen folgend, nahm ich einen Stadtbus bis Kawaramachi Sanjō, ging zu einem kleinen Busbahnhof in der Nähe und erkundigte mich, wo und um wieviel Uhr der Bus Nummer 16 abfahren würde. Um 2 Uhr 35, von der Haltestelle gleich gegenüber, erfuhr ich. Die Fahrt würde ungefähr anderthalb Stunden dauern. Ich kaufte eine Fahrkarte und ging in einen Buchladen, um eine Landkarte zu erstehen. Auf einer Bank in der Wartehalle ortete ich auf der Karte, wo genau das Erholungsheim Ami lag – viel tiefer in den Bergen, als ich vermutet hatte. Der Bus mußte auf seinem Weg nach Norden mehrere Bergketten überqueren. Er fuhr bis ans Ende der Straße und kehrte von dort in die Stadt zurück. Die Haltestelle, an der ich aussteigen mußte, befand sich kurz vor der Endstation. Naoko zufolge gab es von dort einen Bergpfad, auf dem man in zwanzig Minuten das Erholungsheim Ami erreichte. Kein Wunder, daß es ruhig dort ist, wenn es so tief in den Bergen liegt, dachte ich.
Der Bus fuhr mit zwanzig Fahrgästen an Bord den Kamo-Fluß entlang in Richtung Norden. Je weiter wir stadtauswärts kamen, desto leerer wurden die Straßen, und an ihre Stelle traten immer mehr Felder und freie Flächen. Schwarze Ziegeldächer und Gewächshäuser aus Kunststoff reflektierten die Strahlen der frühherbstlichen Sonne. Bald fuhr der Bus in die Berge, und der Fahrer mußte das Lenkrad hin- und herkurbeln, um den Windungen der Straße zu folgen. Mir wurde etwas übel, der Kaffee vom Morgen stieß mir auf; aber allmählich wurde die Strecke weniger kurvenreich, und ich konnte aufatmen. Der Bus fuhr nun durch einen kühlen Primärwald aus hochaufragenden Zedern, die das Sonnenlicht aussperrten und alles mit ihren düsteren Schatten bedeckten. Der durch das offene Fenster wehende Wind wurde plötzlich frisch, und seine Feuchtigkeit schmerzte beinahe auf der Haut. Wir fuhren so lange durch dieses zedernbewachsene Tal, daß in mir bereits das Gefühl aufkam, die ganze Welt wäre von Zedern beherrscht, aber dann hörte der Wald endlich auf, und wir hatten eine von Bergen umgebene, von weiten, grünen Feldern bedeckte Senke erreicht. Neben der Straße floß ein klarer Bach. In der Ferne stieg eine schlanke weiße Rauchsäule auf, hier und da hing Wäsche vor den Häusern, und überall war Hundegebell zu hören. Auf dem bis zu den Dachtraufen gestapelten Feuerholz vor den Häusern sonnten sich die Katzen. Zeitweilig war die Straße von Häusern gesäumt, doch kein Mensch ließ sich blicken.
Diese Szenerie wiederholte sich einige Male. Der Bus fuhr durch Zedernwald, kam in ein Dorf und fuhr dann wieder in den Wald. Wenn er in den Dörfern haltmachte, stiegen Leute aus, aber niemand stieg ein. Ungefähr vierzig Minuten nach unserer Abfahrt kamen wir auf eine Paßhöhe mit einem weiten Ausblick. Der Fahrer hielt und kündigte eine Pause von fünf, sechs Minuten an, während der man aussteigen durfte. Inzwischen waren außer mir nur noch drei Fahrgäste im Bus. Alle stiegen aus, streckten sich, rauchten oder genossen den Panoramablick auf Kyotō. Der Fahrer ging an den Straßenrand, um zu pinkeln. Ein braungebrannter, etwa fünfzigjähriger Mann, der mit einem großen verschnürten Pappkarton in den Bus gestiegen war, fragte mich, ob ich in den Bergen wandern wolle. Um weiteren Erklärungen aus dem Weg zu gehen, bejahte ich.
Schließlich kam ein Bus von der anderen Seite den Paß herauf und hielt neben unserem an. Der Fahrer stieg aus, hielt einen kurzen Schwatz mit unserem Fahrer, dann stiegen beide wieder in ihre Busse. Wir vier nahmen wieder unsere Plätze ein, und die Busse fuhren in entgegengesetzten Richtungen ab. Ich hatte nicht sofort begriffen, warum unser Bus auf den anderen gewartet hatte, aber nach einem kurzen Stück bergab verengte sich die Straße plötzlich so stark, daß die beiden großen Busse niemals aneinander vorbeigekommen wären. Selbst gewöhnliche Kombis und PKW hatten Schwierigkeiten, so daß eines der Fahrzeuge zurücksetzen und sich eng in den Überhang der Kurve schmiegen mußte.
Die Dörfer im Tal wurden jetzt zunehmend kleiner und die Felder schmaler. Wir fuhren immer näher auf die steiler werdenden Hänge zu. Nur die Zahl der Hunde schien nicht abzunehmen, und wenn der Bus ankam, setzte jedesmal ein regelrechter Kläffwettbewerb ein.
An der Haltestelle, an der ich ausstieg, gab es gar nichts. Keine Häuser und auch keine Felder. Nur ein einsames Haltestellenschild,
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