Naokos Laecheln
einen Bach und den Bergpfad. Ich schulterte meinen Beutel und begann, am Bach entlang den Pfad hinaufzusteigen. Der Bach floß links vom Weg, die rechte Seite war von Laubwald gesäumt. Nachdem ich dem sanft ansteigenden Weg etwa fünfzehn Minuten gefolgt war, gelangte ich rechter Hand an einen Weg, der gerade breit genug für ein Auto war. Dort stand ein Schild: »Erholungsheim Ami. Privatweg. Für Unbefugte Zutritt verboten.«
Deutliche Reifenspuren führten den Weg entlang durch den Wald, aus dem mitunter der Flügelschlag eines Vogels zu hören war. Das Flattergeräusch war seltsam eindringlich, fast als würde es verstärkt. Einmal glaubte ich, aus der Ferne einen Schuß zu hören, doch der Knall klang dumpf und wie durch mehrere Filter abgegeben.
Als ich den Wald hinter mir hatte, stieß ich auf eine weiße Mauer. Sie hatte ungefähr meine Höhe und auch keinen Stacheldraht darauf, so daß es für mich ein Leichtes gewesen wäre, darüberzusteigen. Das schwarze eiserne Tor, neben dem das gleiche Schild wie weiter unter stand – »Erholungsheim Ami. Privat. Für Unbefugte Zutritt verboten« –, wirkte robust, stand aber weit offen, und auch am Wachhäuschen war weit und breit niemand zu sehen. Einiges wies jedoch darauf hin, daß der Wachmann noch vor kurzem an seinem Platz gewesen war. Im Aschenbecher lagen drei Kippen, eine halbleere Teetasse stand auf dem Tisch, ein Transistorradio auf einem Regal, und an der Wand zerhackte eine Uhr mit ihrem trockenen Ticktack die Zeit. Ich wartete auf das Wiedererscheinen des Wachmanns, aber als das nicht geschah, drückte ich zwei-, dreimal auf eine Art Klingel. Gleich hinter dem Tor befand sich ein Parkplatz, auf dem einsam ein Minibus, ein Landcruiser mit Vierradantrieb und ein dunkelblauer Volvo standen, obwohl sicher dreißig Wagen Platz gehabt hätten.
Nach ein paar Minuten kam der Torwächter, ein hochgewachsener Mann von Anfang Sechzig mit einer Stirnglatze, in marineblauer Uniform auf einem gelben Fahrrad den Waldweg entlanggeradelt. Er lehnte das gelbe Fahrrad gegen das Wachhäuschen und entschuldigte sich in einem Ton, der keineswegs entschuldigend klang. Auf dem Schutzblech des Fahrrads stand mit weißer Farbe die Zahl 32. Als ich ihm meinen Namen nannte, telefonierte er und wiederholte der Person am anderen Ende der Leitung den Namen zweimal. »Ja gut, in Ordnung«, sagte er und legte auf.
»Gehen Sie bitte zum Hauptgebäude und fragen Sie nach Ishida-sensei * 1 «, erklärte er mir. »Gehen Sie diesen Weg durch den Wald bis zu einem Kreisel. Dann nehmen Sie die zweite Abzweigung von links – ja? die zweite von links – und folgen diesem Weg. Wenn Sie auf ein altes Gebäude stoßen, biegen Sie nach rechts ab und kommen durch ein Wäldchen zu einem Betonbau. Das ist das Hauptgebäude. Wenn Sie sich an die Schilder halten, können Sie es nicht verfehlen.«
Ich schlug den beschriebenen Weg ein und kam zu einem interessanten alten Gebäude, das einmal ein Landsitz gewesen sein mußte. Das Anwesen hatte einen gepflegten Garten mit schön geformten Felsen und einer Steinlaterne. Als ich nach rechts durch den Wald ging, tauchte vor mir ein zweistöckiges Betongebäude auf. Da der Boden ausgehoben worden war und man das Gebäude in diese Senke hineingebaut hatte, wirkte es nicht übermächtig, eher schlicht und sehr reinlich.
Ich stieg eine Treppe zum ersten Stock hinauf und ging durch eine Glastür zum Empfang, wo eine junge Frau in einem roten Kleid saß. Nachdem ich ihr meinen Namen genannt und nach Ishida-sensei gefragt hatte, deutete sie lächelnd auf ein braunes Sofa und bat mich mit leiser Stimme, einen Moment dort Platz zu nehmen. Dann wählte sie eine Nummer. Ich nahm meinen Rucksack von der Schulter, sank in die weichen Polster des Sofas und sah mich um – eine saubere, angenehme Empfangshalle mit Zierpflanzen, geschmackvollen abstrakten Ölgemälden und einem auf Hochglanz polierten Boden. Die Wartezeit verkürzte ich mir, indem ich das Spiegelbild meiner Schuhe auf dem Boden betrachtete.
Die Empfangsdame teilte mir mit, Ishida-sensei komme gleich. Ich nickte. Wie ruhig es hier ist, dachte ich. Kein Laut war zu hören. Es herrschte eine Stille, als hielte die ganze Welt Siesta. Menschen, Tiere, Käfer, Pflanzen, alle schienen in tiefem Schlaf zu liegen.
Als ich dann doch das weiche Quietschen von Gummisohlen vernahm, erschien eine Dame mittleren Alters mit wild zu Berge stehendem kurzen Haar, die sich neben mich setzte und die Beine
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