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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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entspannt und geborgen. Alle Defekte kommen ei nem ganz natürlich vor, und man hält sich für geheilt. Aber ich bezweifle, ob die Außenwelt uns auch so wahrnehmen würde.
    Mein Arzt sagt, es sei allmählich Zeit für mich, Kontakt zu Außenstehenden aufzunehmen. Mit ›Außenstehenden‹ sind natürlich normale Menschen in der normalen Welt gemeint. Dabei kommst eigentlich nur Du mir in den Sinn. Meine Eltern möchte ich, ehrlich gesagt, gar nicht sehen. Sie sind so bekümmert über mich, daß das Zusammensein mit ihnen bedrückend für mich ist. Außerdem möchte ich Dir ein paar Dinge erklären. Ob mir das gelingen wird, weiß ich nicht, aber es sind sehr wichtige Dinge, denen ich nicht länger aus dem Weg gehen darf.
    Empfinde mich aber bitte nicht als Belastung. Auf keinen Fall möchte ich Dir oder sonst jemandem zur Last fallen. Ich spüre Deine Zuneigung zu mir und bin glücklich darüber. Diese Freude möchte ich Dir ganz offen zeigen. Vielleicht ist diese Zuneigung genau das, was ich jetzt brauche. Verzeih, wenn ich etwas schreibe, das Dich kränkt. Ich wiederhole mich, aber ich bin viel verwirrter, als Du glaubst.
    Manchmal überlege ich mir, was wohl geschehen wäre, wenn wir beide uns schon früher unter ganz alltäglichen Umständen kennengelernt und uns ineinander verliebt hätten. Wenn ich normal gewesen wäre und Du auch normal gewesen wärst (was du natürlich immer warst) und es Kizuki nicht gegeben hätte. Natürlich ist dieses ›Wenn‹ viel zu groß. Im Augenblick kann ich nicht mehr tun, als mich zu bemühen, gerecht und ehrlich zu sein. Ich wollte Dir zumindest eine vage Vorstellung von meinen Gefühlen geben.
    Anders als in gewöhnlichen Krankenhäusern haben wir hier freie Besuchszeiten. Wenn Du Dich einen Tag vorher telefonisch anmeldest, bist Du jederzeit willkommen. Wir könnten zusammen essen, und Du kannst auch hier übernachten. Besuch mich doch bitte einmal, wenn Du es einrichten kannst. Ich würde mich so freuen. Eine Wegbeschreibung lege ich bei. Entschuldige, daß mein Brief so lang geworden ist.«
    Nachdem ich Naokos Brief noch zweimal gelesen hatte, ging ich nach unten, um mir eine Cola am Automaten zu ziehen, und während ich sie trank, las ich den Brief dann noch einmal. Schließlich steckte ich die sieben Blätter wieder in den Umschlag zurück und legte ihn auf meinen Schreibtisch. Als ich ihn eine Weile anstarrte, fiel mir auf, daß die kleinen Zeichen, mit denen Name und Adresse auf den rosa Umschlag geschrieben waren, für ein junges Mädchen eine Spur zu pedantisch wirkten. Auf der Rückseite des Umschlags stand als Absender »Erholungsheim Ami«. Komischer Name. Ich ließ ihn mir eine Weile durch den Kopf gehen, bis ich auf die Idee kam, er könnte französisch sein und »Freund« bedeuten.
    Nachdem ich den Brief in meine Schreibtischschublade gelegt hatte, zog ich mich um und ging aus, denn ich fürchtete, ich würde den Brief sonst noch zehn- oder zwanzigmal lesen. Während ich wie früher mit Naoko ziellos durch die sonntäglichen Straßen von Tōkyō irrte, rief ich mir ihren Brief Zeile für Zeile ins Gedächtnis und grübelte über jeden Satz nach. Als die Sonne unterging, kehrte ich ins Wohnheim zurück und rief im Erholungsheim Ami an. Eine Empfangsdame hob ab und fragte nach meinen Wünschen. Ich nannte Naokos Namen und fragte, ob es möglich sei, sie am folgenden Nachmittag zu besuchen. Die Dame notierte meinen Namen und bat mich, in einer halben Stunde noch einmal anzurufen.
    Als ich nach dem Essen zurückrief, war dieselbe Dame am Apparat und teilte mir mit, ich könne Naoko am nächsten Tag besuchen. Ich bedankte mich, legte auf und packte ein paar Kleidungsstücke und Waschzeug in meinen Rucksack. Im Bett trank ich noch einen Brandy und las im Zauberberg, bis ich müde wurde; dennoch schlief ich erst gegen ein Uhr morgens ein.

6. Kapitel
    Am Montagmorgen wachte ich um sieben Uhr auf, wusch mir das Gesicht und rasierte mich. Ohne zu frühstücken, ging ich schnurstracks ins Büro des Wohnheimleiters und teilte ihm mit, ich führe für zwei Tage in die Berge zum Wandern. Da ich schon öfter solche kleinen Reisen unternommen hatte, wenn ich Zeit hatte, zeigte er kaum eine Reaktion. Ich quetschte mich in eine überfüllte Bahn und fuhr zum Bahnhof Tōkyō, wo ich mir eine Fahrkarte für den Superexpreß nach Kyotō kaufte und gerade noch den nächsten superschnellen Hikari erwischte. Im Zug nahm ich Kaffee und ein Sandwich zum Frühstück und schlief eine

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