Naokos Laecheln
übereinanderschlug. Kommentarlos nahm sie meine Hand und drehte sie hin und her, um sie gründlich von beiden Seiten zu betrachten.
»Sie spielen wohl kein Instrument, nicht wahr? Zumindest haben Sie in den letzten Jahren keins gespielt«, sagte sie als erstes.
»Stimmt«, erwiderte ich erstaunt.
»Das sehe ich Ihren Händen an.« Sie lächelte.
Die Frau hatte etwas Geheimnisvolles. Ihr Gesicht war sehr faltig, was sogleich ins Auge fiel, aber sie sah deshalb keineswegs alt aus. Im Gegenteil betonten ihre Falten sogar eine gewisse Jugendlichkeit an ihr, die zeitlos war. Die Falten schienen zu ihrem Gesicht zu gehören, als wäre sie schon mit ihnen geboren worden. Wenn sie lächelte, lächelten die Falten mit; schaute sie besorgt drein, unterstrichen die Falten diese Besorgnis. Und wenn sie weder lächelte noch besorgt aussah, verliehen die Falten ihrem Gesicht einen warmen, etwas ironischen Ausdruck. Diese Frau, die ich auf Ende Dreißig schätzte, faszinierte mich auf eine unbestimmte Art, und vom ersten Augenblick an war sie mir sympathisch.
Obwohl ihr Haar völlig achtlos geschnitten und struppig war und sogar der Pony ihr ungleichmäßig in die Stirn fiel, stand ihr diese wilde Frisur ausgezeichnet. Sie trug ein blaues Arbeitshemd über einem weißen T-Shirt, weite cremefarbene Hosen und Turnschuhe. Sie war schlaksig und dünn und hatte fast keinen Busen. Ständig verzog sie den Mund zu einem ironischen Lächeln, während die Krähenfüße um ihre Augen nur so tanzten. Sie sah aus wie eine etwas weltverdrossene, gutherzige, sehr patente Schreinermeisterin.
Mit eingezogenem Kinn und gekräuselten Lippen musterte sie mich eine Weile von oben bis unten, als würde sie jeden Augenblick einen Zollstock aus der Tasche ziehen und anfangen, mich zu vermessen.
»Können Sie ein Instrument spielen?«
»Nein, leider nicht«, erwiderte ich.
»Schade, das wäre sicher lustig geworden.«
Ich konnte mir nicht vorstellen, was dieses ganze Gerede über Musikinstrumente sollte.
Sie nahm ein Päckchen Seven Star aus ihrer Brusttasche, steckte sich eine zwischen die Lippen und zündete sie mit einem Feuerzeug an. Sie rauchte mit sichtlichem Genuß.
»Also, Herr Watanabe – so war doch Ihr Name? Ehe Sie Naoko sehen, sollte ich Ihnen vielleicht einiges über diesen Ort erzählen. Darum führen wir beide jetzt diese kleine Unterhaltung. Unser Sanatorium unterscheidet sich von anderen, so daß sie es ohne ein paar Hintergrundinformationen hier ein wenig sonderbar finden könnten. Nicht wahr, Sie wissen noch nichts über unser Haus?«
»Fast nichts.«
»Ja, also, dann will ich mal anfangen…« Plötzlich schnippte sie mit den Fingern. »Ach, Sie haben ja noch nichts gegessen! Sie haben bestimmt Hunger?«
»Eigentlich schon.«
»Dann kommen Sie mal mit. Wir können uns genauso gut beim Essen unterhalten. Die Mittagszeit ist zwar vorbei, aber wenn wir gleich gehen, kriegen wir sicher noch was.«
Eilig schritt sie vor mir her den Korridor entlang und die Treppe hinunter ins Erdgeschoß. Im Speisesaal hätten etwa zweihundert Personen Platz gefunden, doch nur die eine Hälfte schien in Gebrauch zu sein, während die andere mit Paravents abgeteilt war, wie in einem Ferienhotel in der Nebensaison. Das Mittagsmenü bestand aus einer Kartoffelsuppe mit Nudeln, Rohkostsalat, Saft und Brot. Wie Naoko in ihrem Brief geschrieben hatte, waren die Gemüse erstaunlich schmackhaft, und ich ließ nicht das kleinste bißchen auf dem Teller zurück.
»Offensichtlich schmeckt es Ihnen«, bemerkte meine Begleiterin amüsiert.
»Ganz köstlich. Außerdem habe ich seit heute morgen nichts gegessen.«
»Wenn Sie möchten, können Sie meins auch noch essen. Ich bin satt. Hier, bitte.«
»Da sag ich nicht nein, aber nur wenn Sie wirklich nicht mehr können.«
»Mein Magen ist klein, da paßt nicht viel rein. Was ich nicht esse, mache ich mit Rauchen wett.« Sie steckte sich noch eine Seven Star an. »Übrigens, Sie können Reiko zu mir sagen. So nennen mich alle.«
Sie beobachtete interessiert, wie ich die Kartoffelsuppe aß, die sie kaum angerührt hatte, und auch noch das Brot verputzte.
»Sind Sie Naokos zuständige Ärztin?«
»Ich? Ärztin?« Sie verzog überrascht das Gesicht. »Wie kommen Sie denn auf die Idee?«
»Man hat mir gesagt, ich solle nach Ishida-sensei fragen.«
»Ach so, nein, ich unterrichte Musik. Deshalb nennen mich alle Sensei. Eigentlich bin ich hier auch Patientin, schon seit sieben Jahren, aber inzwischen
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