Narben
den Gedichtband, ein dünnes, grau eingebundenes Büchlein aus einem angesehenen New Yorker Verlagshaus. Es war seit drei Jahren nicht mehr ausgeliehen worden.
Als nächstes ging ich in die Zeitschriftenabteilung, suchte mir ein leeres Lesepult und stapelte gebundene Jahrgänge auf den Tisch, bis mir die Arme schmerzten. Ich setzte mich und begann mit der Lektüre.
Ich erfuhr, daß der Gedichtband Lowells erstes Buch in zehn Jahren gewesen war. Das letzte davor war eine Anthologie früher schon veröffentlichter Kurzgeschichten. Der Neujahrstag damals war auch Lowells fünfzigster Geburtstag gewesen. Das Buch hatte einiges Aufsehen erregt: sechsstellige Honoraranzahlung, Buch des Monats in einem der Buchclubs, Übersetzung in dreiundzwanzig Sprachen und sogar eine Verfilmungsoption von einer unabhängigen Produktionsfirma in Hollywood. Seltsam, dachte ich. Es waren schließlich Gedichte.
Dann kamen die Kritiken. Eine der großen Zeitungen nannte das Werk »großtuerisch, düster und verblüffend amateurhaft«. Ein anderes Blatt beschrieb Lowells Karriere als »ruhmreich, stoßkräftig, einmalig«, nannte aber seine Dichtung »nebulös und ekelerregend, morbid, inkohärent. Der Ruhm ist zu Eigenruhm verkommen.«
Das meiste ging in diese Richtung, bis auf eine Ausnahme: Ein Doktorand der Columbia-Universität namens David Mellors schwärmte im Manhattan Book Review . »Üppige Lyrik, die auf dunkle Weise bezaubert.«
Soweit ich sehen konnte, hatte Lowell öffentlich nicht auf das Debakel reagiert. Ein paar Zeilen ganz unten auf einer Seite des Publishers Journal vom vierundzwanzigsten Januar besagten, daß »die Verkäufe erheblich hinter den Erwartungen zurückblieben«. Ähnliche Artikel erschienen in anderen Magazinen, beweinten den Niedergang der zeitgenössischen Lyrik und fragten, was denn mit Morris B. Lowell passiert war.
Im März berichtete der Manhattan Book Review über Gerüchte, Lowell hätte mit unbekanntem Ziel das Land verlassen. Im Juni schrieb ein englisches Klatschblatt, er sei in einem Dorf in den Cotswolds gesichtet worden. Den ganzen Sommer über wurde er in den verschiedensten Ländern angetroffen: Italien, Griechenland, Marokko, Japan. Im September nahm »der Pulitzer-Preisträger Morris B. Lowell« Wohnsitz in Südkalifornien, und im Dezember stand in der exklusiven Immobilienspalte der Times , Lowell hätte kürzlich zwei Hektar Land, inklusive Gebäuden, im Topanga Canyon in Besitz genommen, »ein dichtbewaldetes ländliches Refugium, das zuletzt als Nudistenkolonie gedient hat und nun seinem Wiederaufbau entgegensieht«.
Im Mai darauf nahm Lowell an einer Wohltätigkeitsveranstaltung für politische Gefangene teil, einer »Gala der Stars« in Malibu, im Haus eines gewissen Curtis Ape, eines Filmproduzenten. Im Juni verkündete er die Einrichtung eines Künstler und Schriftstellerrefugiums auf seinem Grundstück in Topanga.
»Es soll ein Sanktum werden«, meinte er, »und so soll es auch heißen: Sanktum. Eine blanke Leinwand, wo kreative Menschen ungehemmt klecksen, kritzeln, spritzen, sich verirren, zerstreuen und wie auch immer dem großen Es huldigen können.«
Im September notierte die L. A. Times im Unterhaltungsteil, Curtis Ape würde die Errichtung neuer Wohngebäude im Sanktum finanzieren. Der Architekt war Claude Hiroshima, ein vierundzwanzigjähriges japanisch-amerikanisches Wunderkind.
»Mein Ziel wird sein, mich der im Sanktum herrschenden mentalen und physischen Geometrie anzunähern. Das Grundstück beherbergt eine Reihe von Holzbauten. Die neuen Gebäude sollen identisch aussehen.«
Holzbauten? Meinte er Blockhäuser? - Entweder hatte Lucy über die Kolonie gelesen, oder ihr Bruder mußte ihr davon erzählt haben.
Im Dezember stand im Publishers Journal , die Taschenbuchausgabe von Es werde Licht sei auf unbestimmte Zeit verschoben worden und der Verkauf von Lowells früheren Werken praktisch zum Stillstand gekommen. Die Preise, die für seine Gemälde bezahlt wurden, waren ebenfalls im Keller.
März: In einer äußerst bitteren Rückschau auf sein Lebenswerk schlägt Village Voice vor, Lowells Platz in der Literaturgeschichte müßte neu bewertet werden. Drei Wochen später erscheint der Leserbrief eines Terrence Trafficant aus Rahway, in dem er den Artikel angreift, den Autor als »blutsaugenden Wurm von einem Tintenwichser« und Lowell als den »amerikanischen Christus des zwanzigsten Jahrhunderts« bezeichnet.
Juli: Lowell verkündet den Abschluß der
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