Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narben

Narben

Titel: Narben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
tief verletzt.«
    »Eine empfindliche Seele?« fragte der Journalist.
    »Das kommt immer auf den Kontext an«, erwiderte Lowell. Im Lauf der folgenden zwanzig Jahre wurde Lowell immer seltener erwähnt, und am Ende gab es nur noch vereinzelte Doktorarbeiten, die ihn mit dem grausamen Zynismus abtaten, der in der Literaturwelt als witzig gilt. Es werde Licht verschwand aus den Buchläden, und danach gab es weder ein weiteres Buch noch ein neues Gemälde.
    Terry Trafficant blieb verschwunden.
    Ich lieh den schmalen grauen Gedichtband aus und fuhr nach Haus. Als ich am Topanga Canyon vorbeikam, fragte ich mich, ob der große Mann wohl noch dort lebte.

6
    Ich holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und nahm Lowells Gedichte mit auf die Terrasse. Bald wurde mir klar, daß ich so etwas niemals zum Vergnügen lesen würde.
    Es war ganz übles Zeugs. Nicht zu vergleichen mit den Versen, Kurzgeschichten, die Lowell in den Vierzigern und Fünfzigern geschrieben hatte. Fast alle Gedichte enthielten explizite Beschreibungen von Gewalt oder verherrlichten sie sogar.
    Das Titelgedicht war eine leere schwarze Seite, und das Schlußgedicht war so klein gedruckt, daß ich es kaum lesen konnte:
    Miststück, Idiotin Sie bettelt danach Was denkt sie, was sie ist?
    Und so weiter. Leicht zu verstehen, warum das Buch kein Erfolg wurde - und warum es Trafficant gefiel.
    Ich las noch einmal das letzte Gedicht. Eine Frau, die danach bettelt. Die klassische Vergewaltigungsphantasie.
    Lucys Inkubus. Die Entführungsszene in ihrem Traum. Kannte sie das furchtbare kleine Buch, vielleicht als Teil der Fundstücke ihres Bruders aus seiner »Ahnenforschung«? Hatte sie es gelesen und sich mit dem Opfer identifiziert? Oder war der Traum persönlicher - war sie vielleicht selbst mißbraucht worden?
    Vor ihrer Berufung als Geschworene hatte sie ausgesagt, sie sei nie Opfer eines Verbrechens gewesen, doch wenn das Erlebnis sehr lange zurücklag, hatte sie es vielleicht verdrängt und erinnerte sich nicht mehr daran.
    Ich wälzte diese Gedanken noch eine Weile, und als es zu nichts führte, ging ich ins Haus. Ich knipste die Fernsehkanäle durch, bis ich eine Nachrichtensendung fand. Es ging um Osteuropa. Dann erschien Schwandts Gesicht hinter dem Ansager.
    »Die Polizei in Santa Ana meldet den Fund einer verstümmelten Leiche, eine junge Frau, die noch nicht identifiziert werden konnte. Die Leiche wurde heute morgen in einem Müllsack an der Autobahn außerhalb von Santa Ana entdeckt. Unterrichtete Kreise weisen auf die Ähnlichkeit zu den Massenmorden hin, für die Roland Schwandt kürzlich zum Tod verurteilt wurde. Man spricht von der Möglichkeit, daß ein Nachahmungstäter sein Unwesen treibt. Mehr darüber, sobald es Einzelheiten gibt.«
    Kurz darauf summte das Telefon. Lucy.
    »Was ist passiert?« fragte ich.
    »Der Traum… ich hatte ihn wieder.«
    »Nach unserer Sitzung heute morgen?«
    »Ja.« Ihre Stimme zitterte. »Hier an meinem Schreibtisch… Ich muß leise sprechen. Ich bin an einem Münzapparat in der Halle. Die Leute starren mich an. Können Sie mich hören?«
    »Ja, jedes Wort.«
    Sie holte Atem. »Ich komme mir so unmöglich vor. Am Schreibtisch einzuschlafen - können Sie sich das vorstellen?«
    »Wann ist das gewesen?«
    »In der Mittagspause. Ich aß aus der Tüte, um Zeit zu sparen, weil ich soviel zu tun habe. Und dann muß ich eingenickt sein. Wann genau, weiß ich nicht.«
    »Haben Sie irgendwelche Medikamente geschluckt?«
    »Nur Tabletten gegen die Kopfschmerzen.«
    »Keine Antihistamine oder andere Mittel, die schläfrig machen?«
    »Nichts. Ich bin einfach eingeschlafen.« Sie flüsterte. »Der Traum muß mich aufgeweckt haben. Ich lag auf dem Boden. Meine Beine… der Traum war noch da, als ich aufwachte. Mitten im Büro! Stellen Sie sich das vor!«
    »Sind Sie verletzt?«
    »Körperlich nicht, aber jetzt muß doch jeder denken, ich sei verrückt!«
    »Waren viele Leute dabei, als sie hinfielen?«
    »Nein, aber sofort danach. Es war Mittagspause. Eine ganze Gruppe kam vom Essen zurück und sah mich auf dem Boden liegen. Ich rannte zum Klo. Als ich zurückkam, stand mein Chef an meinem Schreibtisch. Der kommt sonst nie heraus. Sie hätten sein Gesicht sehen sollen - ›Was ist das für eine Verrückte?‹ - so schaute er mich an!«
    »Wahrscheinlich hat er sich nur Sorgen um Sie gemacht.«
    »Nein, er denkt sicher, ich bin eine durchgedrehte Zicke. Am hellichten Tag einzuschlafen… Ich sagte, ich müßte mich frisch

Weitere Kostenlose Bücher