Narben
nach. »Ich weiß nicht… Wie auch immer, ich muß mich im Augenblick um acht wichtige Kunden kümmern. Früher gab es nur so viel Arbeit, wenn Steuererklärungen anlagen.«
Sie stand auf. Als wir an der Tür waren, fragte sie: »Haben Sie in letzter Zeit mit Detective Sturgis gesprochen?«
»Ja, vorgestern.«
»Wie geht es ihm?«
»Gut.«
»Er ist ein so netter Mensch. Wie wird er nur fertig mit solchen Fällen?«
»Nicht jeder Fall ist so schlimm wie Schwandts.«
»Gott sei Dank.«
Ich begleitete sie hinaus. Sie stieg in ihren kleinen blauen Mitsubishi, drehte den Zündschlüssel und fuhr mit quietschenden Reifen davon.
Ich ging ins Haus zurück und schrieb meine Notizen ins reine. Es war unsere vierte Sitzung gewesen, und wieder hatte sie nur über Schwandts Verbrechen geredet, über die Verhandlung und die Opfer, aber nicht über die Träume, wegen denen sie eigentlich meine Hilfe gesucht hatte. Ich hatte sie heute erwähnt, doch sie wechselte sofort das Thema.
Ich ging auf die Terrasse und blickte auf den Ozean hinaus. Ich dachte an Lucys drei Monate auf der Geschworenenbank. Neunzig Tage an einem vergifteten Ort.
»Strikte Vegetarierin«, hatte mein Freund Milo mir über einem Glas Scotch erzählt. »›Rettet die Wale‹-Aufkleber auf dem Auto und Spenden an Greenpeace. Die Verteidigung dachte, sie sei zu weich, den Dreckskerl auf den Stuhl zu schicken.«
Es war ein Uhr früh. Wir waren in einer halbleeren Cocktailbar in der Innenstadt, ein paar Straßen von dem Gerichtsgebäude entfernt, wo Roland Schwandt ein Vierteljahr lang kichernd, nasebohrend, pickeldrückend, kettenrasselnd hofgehalten hatte. Je ekelhafter die Zeugenaussagen, desto breiter sein Grinsen.
Milo stellte sein Glas ab. »Kein Fisch, auch keine Eier oder Milchprodukte, nur Obst und Gemüse. Dazu die leise, sanfte Stimme; und hübsch ist sie, ja, obwohl sie sich nicht viel daraus zu machen scheint. Aber das weiß ich natürlich nicht so genau. Eigentlich weiß ich gar nichts über sie, außer daß sie schlechte Träume hat.«
»Ist sie Single?«
»Das hat sie jedenfalls angegeben.«
»Kein Freund?«
»Sie hat keinen erwähnt. Warum?«
»Ich frage mich, auf wen sie sich stützen könnte.«
»Sie sagte, ihre Mutter ist tot und mit ihrem Vater hätte sie keinen Kontakt. Was Freunde angeht, scheint sie eher ein Mauerblümchen zu sein. Das hat den Verteidigern bestimmt auch gefallen. Übrigens glaube ich, daß sie innere Stärke und einen harten Kern hat. Sie macht auf mich den Eindruck, als hätte sie schon einiges hinter sich.«
»Wovon lebt sie denn?«
»Sie ist Buchhalterin bei einem der großen Wirtschaftsprüfer in Century City.«
»Hat sie dir gegenüber noch andere Probleme erwähnt als die Alpträume?«
»Nein. Und die Träume erwähnte sie nur, weil ich sagte, sie sähe müde aus, und sie erklärte, sie schliefe nicht gut. Ich lud sie zu einem Stück Torte ein, und sie erzählte mir, daß sie Alpträume hat. Dann wechselte sie hastig das Thema. Ein paar Tage später rief sie an. Sie klang immer noch erschöpft, deshalb schlug ich ihr vor, sich mit dir zu treffen. Zuerst meinte sie, sie wolle es sich überlegen, doch dann stimmte sie zu.«
»Haben auch andere Geschworene Probleme?«
»Sie ist die einzige, mit der ich gesprochen habe.«
»Wie kam das eigentlich?«
»Ich schaute mir die Geschworenen an, wie ich es immer tue, und unsere Blicke kreuzten sich kurz. Sie war mir schon vorher aufgefallen, weil sie immer so gewissenhaft aussah. Im Zeugenstand bemerkte ich, daß sie mich anstarrte. Danach hatten wir immer wieder Blickkontakt, und am letzten Verhandlungstag stand ich an der Hintertür, wo die Geschworenen hinausgeführt werden. Sie winkte mir zu und hatte wieder diesen echt intensiven Blick. Ich dachte, sie wolle etwas von mir, also gab ich ihr meine Karte. Drei Wochen später rief sie mich im Polizeirevier an.«
Milo schaute auf seine Hände. »Ich habe also meine gute Tat hinter mir für dieses Jahr. Jetzt bist du dran. Ich weiß nicht, was sie sich leisten kann…«
»Als Buchhalterin wird sie kaum im Geld schwimmen, aber wir werden uns schon einigen«, beruhigte ich ihn.
Milo rieb sich das fleischige Kinn. Im eisblauen Licht der Bar wirkte seine Haut wie pockennarbiger Gips.
»Wie geht’s mit dem Haus voran?« fragte er.
»Langsam. Sehr langsam.«
»Immer noch Schwierigkeiten?«
»Jeder Handwerker scheint es als seine Pflicht zu betrachten, die Arbeit seines Vorgängers zu zerstören. Doch seit
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