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Narben

Narben

Titel: Narben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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machen, und schlich mich in die Halle hinunter. Von da rufe ich jetzt an.«
    »Kommen Sie zu mir, damit wir reden können.«
    »Ich glaube, das ist das beste. Ins Büro kann ich jetzt sowieso nicht zurück.«
    Ich rief einen Neurologen in Santa Monica an, Phil Austerlitz, und bereitete ihn darauf vor, daß ich wahrscheinlich bald eine Überweisung für ihn hätte. Ich erzählte ihm von Lucy, und er fragte: »Denken Sie, es könnte Narkolepsie sein?«
    »Sie hat Schlafstörungen, und als Kind war sie sporadische Bettnässerin.«
    »Aber nichts Chronisches?«
    »Es fing erst vor fünf Monaten an, als sie Geschworene im Schwandt-Prozeß war.«
    »Das klingt eher nach Streßsymptomen.«
    »Das glaube ich auch, aber ich möchte sicher sein.«
    Kurz nach fünf klingelte Lucy an meiner Tür. Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und sah abgespannt aus. Ihr Händedruck war schlaff und feucht.
    Ich holte ihr ein Glas Wasser, und sie setzte sich. Sie trank einen Schluck und vergrub das Gesicht in den Händen.
    »Was geht in mir vor, Dr. Delaware?«
    »Das werden wir schon herausfinden, Lucy.«
    Sie preßte die Lippen zusammen. »Diesmal war es anders. Ich konnte mehr erkennen.«
    Es dauerte einige Minuten, bis sie sich beruhigte. »Erinnern Sie sich noch an das Knirschen, von dem ich Ihnen erzählt habe? Von dem ich dachte, es hätte mit Sex zu tun? - Es ist etwas anderes.«
    Sie lehnte sich vor. »Ich konnte es sehen. Sie schaufeln ein Grab und vergraben sie. Das Knirschen kommt von den Spatenstichen. Ich war näher dran diesmal. Alles war deutlicher, wirklicher als je zuvor. Ich war so nah, daß ich sie berühren konnte. Ich stand direkt hinter ihnen.«
    »Dieselben Männer?«
    »Ja, drei.«
    »Ihr - Lowell auch?«
    Sie nickte. »Er hat mit gegraben. Er schnaufte und fluchte wie die andern. Ich hörte sie atmen. Sie keuchten wie Marathonläufer. Und dann ließen sie sie in das Loch fallen.«
    Ihre Schultern zitterten.
    »Ich spürte, wie ich mich verwandelte. Meine Seele verließ meinen Körper. Ich sah sie davonfliegen wie eine kleine weiße Feder, und dann ging sie in den Körper des Mädchens über.«
    Sie sprang auf.
    »Ich muß mich bewegen.«
    Sie lief zweimal durchs Zimmer zu den Glastüren, bevor sie zu ihrem Sessel zurückkam und stehenblieb.
    »Ich konnte die Erde schmecken, Dr. Delaware. Ich war in diesem Grab… Ich versuchte, die Erde abzuschütteln, doch es kam immer mehr, bedeckte mich… erstickte mich. Ich dachte: So ist es also, wenn man stirbt. Es ist schrecklich. Womit habe ich das verdient, warum tun sie mir das an?«
    Sie schloß die Augen und schien vornüberzufallen. Ich sprang vor und packte sie bei den Schultern. Ihr Körper straffte sich, doch sie schien keine Notiz von mir zu nehmen.
    Plötzlich atmete sie schneller.
    »Lucy!« rief ich.
    Sie öffnete die Augen und blinzelte, als sei sie aus einer hypnotischen Trance erwacht.
    »Was geschah dann, Lucy?«
    »Ich wachte auf und fand mich auf dem Boden… schon wieder. Meine Beine…« Sie schluchzte.
    »Was war mit ihren Beinen?«
    Auf ihren Wangen erschienen rote Flecken. »Sie waren - gespreizt, weit offen, vor aller Augen. Ich fühlte mich so schmutzig.«
    »Es war ein Unfall«, sagte ich, »die Leute verstehen das.« Sie schaute auf meine Hand, und ich ließ ihre Schulter los.
    »Drehe ich jetzt vollkommen durch, Doktor?«
    »Nein«, sagte ich bestimmt, »es handelt sich höchstwahrscheinlich um eine Streßreaktion, und wir werden herausfinden, was die Ursache ist. Außerdem möchte ich, daß Sie einen Neurologen aufsuchen, damit wir ausschließen können, daß irgend etwas Organisches vorliegt.«
    Sie schaute mich erschrocken an. »Was meinen Sie? Etwa ein Hirntumor?«
    »Nein, nichts dergleichen, ich wollte Ihnen keinen Schrecken einjagen. Wir wollen nur ausschließen, daß es sich um eine Schlafstörung handelt, die man mit Medikamenten behandeln kann. Es ist nicht wahrscheinlich, aber ich bin lieber vorsichtig, bevor wir uns auf die Reise machen.«
    »Auf die Reise?«
    »So kann man es nennen, wenn man eine längere Therapie beginnt.«
    Sie schaute weg. »Ich kenne leider keinen Neurologen.«
    Ich gab ihr Phils Namen und Telefonnummer. »Es wird nicht unangenehm sein und bestimmt nicht weh tun.«
    »Hoffentlich. Ich hasse es, zum Arzt zu gehen. Ich rufe ihn morgen an, okay? Jetzt möchte ich nach Hause.«
    »Warum bleiben Sie nicht noch und entspannen sich, bevor Sie sich auf den Weg machen?«
    »Danke, aber ich gehe

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