Narben
befreundet, nicht wahr?«
»Ich glaube, das kann man sagen.«
»Er spricht von Ihnen, als seien Sie eine Art Genie. Konnten Sie ihn beruhigen?«
»Ich konnte ihm nicht viel helfen, wegen der Schweigepflicht.«
»Oh, machen Sie sich da keine Sorgen. Sie können jederzeit mit ihm reden. Ich gebe Ihnen die Erlaubnis.«
»Dazu besteht kein Grund, Lucy.«
»Natürlich nicht. Ich will nur sagen, daß ich ihm vertraue, und ich kenne mich aus mit Männern. Aber, um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ich habe ihn erreicht. Ich wollte mit ihm reden, weil ich in den letzten Wochen seltsame Anrufe bekommen habe.«
»Seltsam?«
»Ja. Kein Wort und dann aufgelegt. Ich bin sicher, es hat nichts zu bedeuten.«
»Wie oft ist es vorgekommen?«
»Zweimal die Woche, im ganzen vielleicht vier oder fünfmal, meistens wenn ich gerade Abendessen kochte oder fernsah. Ich bin sicher, es ist irgend etwas mit der Leitung los. Milo schien auch nicht viel darum zu geben. Er riet mir, ich sollte sofort auflegen, und wenn es nicht aufhört, könnte ich von der Telefongesellschaft ein Gerät bekommen, das die Nummer des Anrufers aufzeichnet.«
»Das klingt vernünftig.« Ich bemühte mich, ruhig zu klingen.
»Könnten Sie um zwölf bei mir sein?«
»Oh, natürlich.« Sie schien vergessen zu haben, daß sie mich angerufen hatte, um einen Termin zu vereinbaren. »Heute mittag wäre ideal.«
Sie kam fünf Minuten zu spät und trug einen weißen Pulli, einen roten Seidenschal, winzige Rubinohrringe und weite Jeans, dazu weiße Socken und Mokassins. Und sie trug das Haar offen. Es war das erstemal, daß ich sie so sah. Es stand ihr gut.
»Schön, daß es Ihnen besser geht«, begrüßte ich sie.
»Vielleicht ist es die Arbeitspause. Ich dachte immer, mein Job wäre unheimlich wichtig für mich, aber nach zwei Tagen zu Hause vermisse ich den Schreibtisch kein bißchen.«
»Wollen Sie vielleicht ganz aufhören?«
»Das überlege ich. Ich gebe nicht viel aus und habe genug gespart, daß es eine Weile reichen würde.« Sie lächelte verlegen. »Außerdem habe ich noch das Einkommen aus dieser Erbschaft. Es ist nicht genug, daß ich mich als reich bezeichnen würde, aber es ist ein nettes Polster. Ich sag ja: Andere Leute haben es viel schwerer.«
»Finden Sie etwas Schlimmes daran, Geld zu haben?«
»Nun ja, ich habe es eben nicht selbst verdient, und es kommt von seiner Seite der Familie - von seiner Mutter. Man hat eine Generation übersprungen mit der Erbschaft, um Steuern zu sparen. Gewöhnlich gebe ich einen großen Teil davon weg, als Spenden, aber warum soll ich das Geld jetzt nicht nutzen, wo es mir helfen kann, über die Runden zu kommen?«
»Ganz meine Meinung.«
»Ich brauche mich wirklich nicht zu rechtfertigen. In drei Jahren war ich keinen einzigen Tag krank. - Oder halten Sie es für verantwortungslos, einfach zu kündigen?«
»Überhaupt nicht.«
»Also, wie gesagt, es ist alles bestens. Ich habe mit Milo auch über den neuen Mordfall geredet. Die Polizei in Santa Ana zieht ihn zu Rate. Sehr klug von denen. Ich weiß noch, wie beeindruckt ich von seiner Aussage war. All die Einzelheiten, die er parat hatte, und von den Verteidigern ließ er sich auch nicht einschüchtern. Ich glaube, es hat mit seiner Erscheinung zu tun. Wie groß ist er eigentlich? Einsfünfundneunzig?«
»Einsneunzig.«
Sie wurde rot und fummelte an ihrem Schal.
»Ich muß Ihnen etwas gestehen: Ich finde ihn sehr attraktiv.« Ich verzog keine Miene und schaute ihr in die Augen.
»Es ist lange her, daß ich so für einen Mann empfunden habe. Abgesehen von Dummheiten bin ich in Liebesdingen eigentlich noch sehr unerfahren. Es waren wirklich Dummheiten, glauben Sie mir, aber das habe ich zum Glück hinter mir.«
»Meinten Sie das heute morgen, als Sie sagten, Sie kennen sich aus mit Männern?«
Sie murmelte etwas.
»Wie bitte?«
Ihre Lippen arbeiteten. Sie schloß die Augen. Ich beugte mich näher zu ihr.
»Ich war auf dem Strich!« Ich sagte nichts.
»Nur einen Sommer lang.«
Ich dachte an ihr Magengeschwür und fragte: »War das der Sommer, als Sie als Lehrerin gearbeitet haben, in Boston?«
»Ich war buchstäblich die Unschuld vom Lande, als ich jemanden kennenlernte, einen großartig aussehenden, charmanten, intelligenten schwarzen Burschen. Der Onkel eines meiner Schüler. Er holte den Jungen manchmal ab, wir kamen ins Gespräch, und eins führte zum anderen. Ich dachte, ich wäre verliebt. Wir gingen eine Weile zusammen, und dann fragte er
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