Narcopolis
gefertigte Zeichnungen, die gelegentlich, wenn auch oft in kryptischer Manier, auf die von ihr beschriebenen, katastrophischen Visionen anspielten; meist aber bestand überhaupt kein Zusammenhang. Auf knapp achtzig Seiten beschrieb Remedios eine zerstörte, von Erdrutschen und Fluten verformte Welt, in der »zerklüftete Städte in Zementlawinen aufstiegen und verfielen, Bäume mit den Wurzeln in die Luft ragten und Vögel wie Steine vom Himmel fielen; der Mond stürzte in einen Spalt, der sich hienieden aufgetan hatte, auf der alten Erde, die in Stücke zerbrach«. Sie schrieb in der Vergangenheitsform, als wären die schrecklichen Szenen längst passiert und von Tausenden bezeugt, von Hunderttausenden verdammter Seelen, und nur sie, Schwester Remedios, sei allein lebend zurückgekehrt, um der Welt von ihrem Tod zu erzählen. Die Nonne ging nicht auf die Ursachen der Katastrophe ein, sie schrieb nicht, ob ein Krieg schuld war oder ein unnatürliches, planetarisches Desaster, doch wurden die Selbstmordszenen getreu wiedergegeben. Das Buch endete mit zwei Seiten über eine große Grube voll mit schwarzem Blut, aus dem giftige Gasblasen aufstiegen, und eine Armee von Geistern, die darum kämpften, aus dieser Grube trinken zu dürfen: Sooft sich einer durch die Menge nach vorn gedrängt hatte, köpfte ein kapuzenverhüllter Schwertträger die weinende Kreatur mit einem einzigen Schlag. So wurden die Gespenster zwar kopflos, nicht aber ausgelöscht. Nur einem einzigen Wesen gelang es, zur Grube zu gelangen und nach Herzenslust zu trinken. Als das Gespenst den öligschwarzen Mund zum Mond hob und vor Freude heulte, erkannte Dimple ihr eigenes blindes Gesicht; dann sah sie den Schwertträger und erkannte auch ihn. Und obwohl sie wusste, dass sie träumte, dass Schwester Remedios’ Buch von ihr selbst erfunden worden und die Welt noch so intakt war wie eh und je, wimmerte sie im Schlaf vor lauter wilden Visionen.
Gegen Morgen versank sie in tieferen Schlaf und wachte erst spät auf, unausgeruht, im Mund einen seltsamen Geschmack, süßsauer, wie von
pani-puri
-Wasser. Sie badete, und die Tai gab ihr Geld für neue Kleider, aber als sie gerade gehen wollte, kam ein Kunde, ein Stammgast mit zwei Schachteln Mithai. Er war der Seth eines Sari-Geschäftes an der Hauptstraße, weshalb man ihn allgemein auch bloß Seth nannte. Lakshmi sagte, selbst für die eigene Familie sei er nur Seth. Sie sagte, er höre schon so lang darauf, dass er seinen echten Namen bestimmt vergessen habe. Der Seth wollte ein paar Flaschen Bier trinken, sich mit gesalzenen Cashews vollstopfen und damit prahlen, wie viel Geld er für die Hochzeit der Tochter ausgab. Die Ehe sei gerade arrangiert worden, erzählte er, und er in Feierlaune. Er wollte Französisch, keine Handentspannung, dann wollte er sich lang ausstrecken und an seinem Bier nippen, während sie für ihn tanzte und vorgab, zum Radio zu singen. Als sie ihn mit dem Schwamm wusch, reinigte er sorgsam Hände und Scham, damit von ihr keine Spur blieb, ein Ritual, das er mit allen verheirateten Männern teilte. Nachdem er gegangen war, schlief sie noch ein wenig, sehr tief, und wachte erst abends auf, und am nächsten Tag war der Schmerz zurück, als wäre er nie fort gewesen und würde auch nie wieder gehen. Sie war an diesem Tag im Außeneinsatz. Ein arabischer Kunde hatte die Tai angerufen und Dimple verlangt. Er wollte, dass sie die Nacht über mit ihm in einem Hotel in Colaba blieb, einem neuen Gebäude in einer der Gassen hinterm Taj Mahal Palace. Der Araber kam jedes Jahr zum Monsun nach Bombay, weil er den Regen erleben wollte, der in seinem Land so selten fiel. Von Dimple verlangte er nicht viel. Er verlangte, dass sie sich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett legte, während er sich an ihr rieb, beide vollständig angezogen. Da er gutes Trinkgeld gab, konnte sie es sich nicht leisten, unpässlich zu sein. Also ging sie erneut zu Mr Lee. Sie begann, ihn einige Male die Woche aufzusuchen, und legte sich auch einen Vorrat Opium für den Fall zu, dass sie es nicht zur Khana schaffte; so einfach war es, sich Opium zur Gewohnheit werden zu lassen, denn das war es, eine Gewohnheit wie zweimal am Tag baden oder Gemüse essen.
•••
Sie lernte, mit den Schmerzen zu leben. Sie waren immer da, in ihren Schultern, ihrem Rücken. Das Opium machte sie erträglich, aber sie wachte mit Schmerzen auf. Als Mr Lee ihr eines Morgens die Pfeife reichte, merkte sie, dass ihre Arme länger wurden.
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