Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
Vom Netzwerk:
Sie war sicher, dass sich das Verhältnis der Arme zum Rest ihres Körpers geändert hatte. Also ging sie zu einem richtigen Arzt in Colaba. Sie fuhr mit der Bahn nach Churchgate und mit dem Taxi von der Station zur Praxis. Er sprach Englisch, hatte seinen Abschluss in London gemacht und besaß eine zweite Praxis in Worli. Sein Zimmer war voll mit Büchern in Glasschränken. Er griff nach einem schweren schwarzen Band mit Markierungen auf den Seiten, und nachdem er einige Minuten gelesen hatte, erklärte er ihr, dass die Verlängerung der Arme eine biologische Reaktion auf ihre Kastration sei. Er sagte: Sie wurden so jung operiert, dass es in Ihrer Physiologie zu hormonellen Ausschlägen kam. Das Wachstum der Arme ist gleichsam eine Kompensation für die tiefgreifende Veränderung, die Sie erlitten haben, vielleicht die größte Veränderung außer dem Tod, die das menschliche System nur erleiden kann. Sie dachte: Mir doch egal. So lange meine Fingerknöchel nicht über den Boden schleifen, ist mir das völlig egal. Was kümmert es mich, wenn meine Arme länger werden? Fällt es mir eben leichter, Pfeifen zuzubereiten. Sie dachte: Ist doch nichts, nur noch eine körperliche Veränderung, mit der ich zurechtkommen muss, so wie auch mein Adamsapfel verschwand, mein Barthaar und die Venen in den Armen. Wohin sind sie verschwunden? Als sie den Arzt fragte, gab der keine Antwort. Er nickte höflich und schrieb seine Rechnung. Der Arzt trug eine Brille mit Goldrand und hatte sie nicht untersucht. Er hatte sie überhaupt nicht berührt, ihr nicht einmal die Hand geschüttelt, als ob er sie kannte, als ob er wüsste, wo sie wohnte und womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente und exakt wie viel Opium sie Tag für Tag rauchte, und auch wenn er kein moralisches Urteil über ihr Leben fällte, urteilte er doch persönlich und als Mediziner über sie, wozu er jedes Recht besaß. Er tastete sie nicht an, wusch sich aber an einem Waschbecken beim Schreibtisch die Hände mit Seife. Er war wie ein Bhai auf der Shuklaji Street: Er berührte weder Geld noch Maal. Er machte sich die Hände erst schmutzig, wenn ihm keine andere Wahl blieb. Er reichte ihr einen Zettel und bat sie, ihn im Vorzimmer abzugeben. Sie bezahlte bei der älteren Frau, zahlte bar, zahlte für eine Viertelstunde der Zeit dieses Mannes mehr, als sie in einer ganzen Nacht verdiente. Sie dachte: Dabei hat er nur in ein Buch geguckt. Ich frag mich, was er mir erst berechnet, wenn er mich anfasst.
    •••
    Mr Lees Khana existierte außerhalb der auf den Straßen geltenden Gesetze von Angebot und Nachfrage. Mistah Lees, auch Mister Rees, war ein sagenumwobener Ort, die Höhle des Chinesen mit seinen antiken Pfeifen, eine Opiumhöhle, in der Kunden nicht willkommen waren. Holzgestelle standen wie Etagenbetten übereinander, auf jeder Pritsche lag eine Pfeife, jede Pfeife auf einem Tablett. Die Raucher kümmerten sich selbst um ihre Pyali. Die Tür war stets geschlossen, und da nur wenige Kunden kamen, machte sich die Polizei gar nicht erst die Mühe, Chaipanni zu fordern. Gegen Mittag kamen zwei oder drei Chinesen mittleren Alters, rauchten ihre Portion und gingen, ohne viel zu sagen. An weiteren Kunden war Mr Lee nicht interessiert. Er verdiente so viel Geld, das es für Opium und Essen reichte – reichlich von dem einen, gerade genug vom anderen – mehr Business wollte er nicht. War er mit Dimple allein, öffnete er gern seine zerbeulten Blechkoffer und zeigte ihr die Relikte seines langen Lebens. In einem Umschlag mit Dokumenten fand sich ein englischer Ausweis. Das Bild war zerknittert und verblasst, die Schrift aber noch zu lesen. Langsam buchstabierte sie seinen Namen; sie brachte sich bei, Englisch zu lesen.
    »Lee ka see.«
    »Nein«, sagte er. »Lee Ka Tsay.«
    Laut las sie sein Geburtsjahr vor, 1929 , und die Provinz: Kanton. Er war Offizier in der Armee gewesen.
    »Falsche Armee«, sagte er. »Ich war auf falscher Seite von Krieg. Weißt du warum? Weil wir haben verloren. Wer verliert, lag falsch.«
     
    Sie wollte wissen, wie es war, auf einen Streich einen Krieg und seine Heimat zu verlieren, lange unterwegs zu sein und an einem Ort anzukommen, an dem einen niemand kannte. Er sagte, es sei wie plötzlich gelähmt sein oder sterben, eine Katastrophe, mit der kein Mensch ohne weiteres fertig werden könne, wie stark oder gut ausgebildet er auch sei. Sie sagte, ihr gefalle die Stadt, sie sei groß und viele Fremde lebten darin, die ihre Freunde wurden.

Weitere Kostenlose Bücher