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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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eingesunken. Mr Lee saß auf einem niedrigen, geflochtenen Bambusstuhl und nippte an seinem Tee. Dimple hatte noch nie so ein Zimmer gesehen. Alles darin befand sich auf Bodenhöhe, war alt und wunderschön. Sie liebte die polierte Tischplatte auf einem Ständer aus dunklerem Holz. Der Tisch war aufklappbar und hatte keine Beine; der Schrank lag horizontal und verfügte über eine benutzbare Oberfläche. Es war ein Spielzeugzimmer voller Spielzeugmöbel. Mr Lee schraubte eine Zigarette in einen Halter, die Augenlider schwer, und streifte die Asche in einem Unterteller ab, auf dem CINZANO stand; einen Moment lang schien er ihre Anwesenheit vergessen zu haben.
    Er sagte: Hitze ist sehr groß. Tee trinken ist das Beste, wenn man Durst hat, besser als kalte Getränke. Er hielt den Zigarettenhalter wie einen Pinsel und wedelte damit herum, während er seine Fragen stellte. Hatte sie schon einmal Opium genommen? Wusste sie, dass der Geschmack sehr bitter war, so bitter, dass einem schlecht davon werden konnte? War es ihr eigener Wunsch, Opium zu nehmen oder der Wunsch der Tai? Wie lautete ihr Name? Ja, erwiderte sie, als sie mit neun Jahren operiert wurde; sie wisse, dass es schlecht schmecke; sie wolle es trotzdem, die Tai hatte nichts damit zu tun, wie sehr sie es wolle; Dimple wie die Schauspielerin im Kino-Kassenschlager
Bobby
, die aber war jünger und schöner.
    •••
    Mr Lee saß auf dem Boden, die Beine ausgestreckt. Im Zimmer brannte nur eine einzige Lampe, und ihr gelbes Licht fiel auf seinen kahlen Kopf und das saubere Unterhemd. Er bewegte sich langsam, ökonomisch, plante voraus, so dass es keine überflüssigen Gesten gab. Auf einem Propangaskocher brachte er mehr Wasser zum Kochen, goss es in ihre Tassen und teilte ihnen aus einer Dose bereits genutzte Teeblätter zu. In einem zweiten Topf machte er Milch warm und holte dann aus einem Blechkoffer eine winzige Waage sowie eine Schale, legte ein klebriges schwarzes Kügelchen hinein, wog es, brach ein wenig davon ab, wog es erneut und legte Dimple das Kügelchen in die Hand. Er reichte ihr die aufgewärmte Milch in einem Messingbecher und sagte, sie solle sich das Kügelchen hinten auf die Zunge legen und es dann rasch hinunterschlucken. Sie hielt sich genau an seine Anweisungen. Das Kügelchen schmeckte unglaublich bitter und blieb an der Zunge kleben. Sie geriet in Panik und schluckte zu viel Milch, nach einer Viertelstunde aber verschwanden die Schmerzen, um ihrem Gegenteil zu weichen, etwas Umfassendem, das ihr sagte, sie werde geliebt, nein, sie werde innig geliebt: sie werde innig geliebt und sei nicht allein.
    •••
    In jener Nacht wurde ihr übel, und sie übergab sich mehrere Male rasch hintereinander, so rasch, dass es schon fast angenehm war. Sie hatte viele Träume, verschiedene, unzusammenhängende Träume, die sie gleichzeitig zu durchziehen schienen – oder war es nur ein einziger Traum, der sich über den Großteil der Nacht in alle Richtungen ausdehnte? Sie träumte von einem Haus, in dem sie nie gewohnt hatte, von einer Familie, die sie nicht kannte. Die Gegend war ihr kaum vertraut, doch wusste sie, dass es irgendwo in Bombay sein musste, vielleicht in Malabar Hill oder in Breach Candy, am Marine Drive oder in Cuffe Parade, einer Gegend, in der die Reichen wohnten, denn in ihrem Traum waren alle reich. Sie hatte Freundinnen, die Queenie, Devika und Perizaad hießen, und sie war bei ihren Lehrern beliebt, bei ihren Mitschülern folglich unbeliebt. Oft war sie glücklich. Sogar im Traum wusste sie, dass sie glücklich war, denn sie war Schülerin, und Lesen war etwas, von dem man erwartete, dass sie es tat. Ihr Lieblingsbuch war ein schmaler Band mit Prophezeiungen von einer Nonne, die auf Konkani geschrieben hatte, die Tag für Tag ihre Hefte mit winziger Schrift gefüllt hatte und vom Geschriebenen das meiste verwarf. Nur drei schmale Bände überstanden ihre strenge Auswahl. Die Nonne hieß Schwester Remedios, und ihre konkanischen Schriften wurden nach ihrem Tod von jenem Kloster veröffentlicht, in dem sie bis zu ihrem Tod gelebt hatte. Bei Dimples Ausgabe handelte es sich um eine englische, zwei Jahrzehnte später erschienene Übersetzung. Das Buch war fürchterlich, nicht bloß, weil es endlose Beschreibungen von Gemetzeln und Massenselbstmorden enthielt, sondern vor allem wegen der beigefügten heiteren Skizzen von Bäumen, Bächen und Nektarvögeln. Die Bilder waren über das ganze Buch verteilt, kleine, von der Nonne

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