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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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schaffen machte. Die Tai gab ihr Massagen, am frühen Morgen, ehe die Giraks kamen, eine Stunde hinter zugezogenen Vorhängen, doch wurden die Schmerzen davon eher schlimmer. Steif erhob sie sich und fühlte sich so taub, dass sie ihre Zehenspitzen nicht mehr spürte. Den ganzen Tag lang hing ihr ein Schmerzgespenst in den Knochen. Sie war reizbar, nicht bei der Sache, die Kunden gingen woanders hin. Nur wenige Stammgäste blieben, und sie kamen, als sei es ihre Pflicht oder als hätten sie ihr eheliches Soll zu erledigen.
    Und so lernte sie Mr Lee kennen. Als ihre Einnahmen sich verringerten, nahm die Tai sie mit zu ihm. Gleich morgen früh, hatte sie gesagt, also etwa um die Mittagszeit. Sie durften nicht zu spät kommen, da er sonst nicht mehr öffnete. Er ist ein Chinamann, sagte die Tai, als ob das alles erklärte, jede Eigenart von Mr Lees Charakter. Dimple wusch sich das Haar und trug Lippenstift auf. Sie hatte es sich angewöhnt, Hosen zu tragen, weil sie dann stolzer ausschreiten, sich mit gespreizten Beinen auf der Couch lümmeln, sich wie ein Zuhälter gehen lassen oder auch einen Baum hinaufklettern konnte, sofern ihr der Sinn danach stand. Hosen erlaubten ihr, sich wie ein Mann zu benehmen, wenn sie dies wollte. An jenem Tag aber trug sie einen gestärkten Salvar, das Pallu züchtig über die Brust gezogen. Sie entschied sich für Schuhe mit flachen Absätzen und hängte sich Silberreifen an die Ohren. Ein konservativer Anblick: Nargis hinter den Kulissen, etwa zu ihrer Zeit mit Raj Kapoor: ein ehrbares indisches Mädchen, das sich aufmachte, ältere Verwandte zu besuchen. In diesem Aufzug konnte sie es fast glauben. Kleider sind Kostüme, dachte sie, Verkleidungen. Das Äußere hat nichts mit der Wahrheit zu tun. Und was ist die Wahrheit? Was immer man sich wünscht. Männer sind Frauen und Frauen Männer. Alle sind alles. Sie dachte: Wie sehe ich aus? Sehe ich aus wie meine Mutter? Sehe ich wie meine Mutter aus oder wie jemand anderes? Sie hatte keine Ahnung, und dafür war sie dankbar. Die Fähigkeit zu vergessen war eine Gabe, ein Talent, das man pflegen sollte.
    •••
    Der Baum war eine Pappelfeige, sehr alt, mit Stofffetzen in den Ästen, schimmernde Streifen Seide oder Crêpe. Ein in Indien sehr verbreiteter Baum, doch ließen ihn die Bänder wie einen seltenen Import aussehen. Am Fuße des Baumes entdeckte sie einen Schrein; Weihrauch brannte um einen Porzellanteller mit Orangen und eine Kiste, in der man bunte, quadratische Papierzettel verbrannt hatte. Sie befanden sich in einer Seitenstraße der Shuklaji Street, einer Gegend für Flüchtlingsfamilien aus China und Burma, zwei, drei Generationen, die in kleinen Zimmern um einen Hof herum wohnten. Die Tai ging schnurstracks zu einem Zimmer am anderen Ende, dem einzigen Zimmer mit verschlossener Tür. Dort bat sie Dimple, sich so vors Guckloch zu stellen, dass er sie leicht sehen konnte, dann klopfte sie. Dimple hörte einen Ruf von der Straße herüberschallen, eine Männerstimme, die ein Wort auf Englisch rief, Papier, vielleicht auch Papa. Die Tai klopfte erneut, und als der Mann die Tür öffnete, war Dimples erster Gedanke eigentlich kein Gedanke, sondern ein Wort:
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. Er ignorierte die Tai und wandte sich nur an sie. »Nee ho ah?« Dann ein längerer Satz, dem sie nicht folgen konnte.
    »Können Sie bitte Englisch mit mir reden?«, sagte sie.
    »Du bist keine Chinesin?«
    »Nein, meine Familie stammt aus Nordostindien.«
    »Okay, Nordosten, verstehe. Sehr nahe an China. SEHR nahe.«
    »Ich weiß nicht genau, woher. Ich bin hier aufgewachsen, in Bombay, auf der Shuklaji Street.«
    Die Tai sagte: »Leeji, wir sind gekommen, Sie um Ihre Hilfe zu bitten. Dimple hat Schmerzen. Können Sie ihr Afeem geben?«
    Drinnen setzten sie sich auf ein niedriges, mit einer Bambusmatte belegtes Holzgestell. Er servierte Tee ohne Milch und Zucker, eine rostbraune Flüssigkeit, deren Geschmack Dimple nicht näher bestimmen konnte, ein staubiges, erdiges Aroma wie von getrockneten Blüten oder Kräutern. Das halbdunkle Zimmer wirkte sauber, und bis auf ein niedrig im geziegelten Dach eingelassenes Oberlicht blieben die Fenster geschlossen. Als Dimples Augen sich ans Zwielicht gewöhnt hatten, sah sie zwei Männer, die auf zusammengestellten Liegen schliefen, nein, nicht schliefen; sie bewegten sich nur nicht, redeten auch nicht; ihre Augen waren offen, aber sie sahen nichts. Sie schienen ganz Augen zu sein, als wären ihre Gesichter rund um den Mund

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