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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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für Kurzschrift & Rasantes Tippen und betrachteten das Treiben auf der Straße. Dimple genügte es, einfach nur zuzuschauen und zuzuhören, und Mr Lee, der dies verstand, machte kaum den Mund auf. Die Milchshakes wurden in hohen Gläsern gebracht, an denen eine rosafarbene Serviette haftete, und Dimple trank ihr Glas in einem Zug zur Hälfte leer, ehe ihr auffiel, dass es sich gehörte, die Serviette abzunehmen, in einer Hand zu halten und wie die anderen Frauen den Strohhalm zu benutzen. Also machte sie es ihnen nach, nahm kleine Schlucke und tupfte sich die Lippen ab. Sie sah den Leuten zu, die von der Arbeit kamen oder zur Abendschule ins Wilson College gingen, Eltern, Großeltern und Kinder, all die großen Familien, die von Gott weiß woher zum Strand kamen und nie ihre Autos verließen. Aus den Fenstern ihres neuen Ambassador oder Fiat bestellten sie sich Mahlzeiten, aßen rasch und bestellten noch mehr. Sie sah ihnen zu, als besuchte sie selbst eine Klasse, eine College-Studentin, die Feldstudien für einen Kurs über Sitten und Gebräuche der indischen Mittelklasse betrieb. Oder für einen Kurs in Elternliebe, dachte sie, und der Milchshake wurde ihr im Mund sauer, als in ihrem Gedächtnis das Bild einer Frau aufzuckte und wieder erlosch. Sie besaß nur wenige Erinnerungen an ihre Mutter, doch die waren lebhaft und würden ihr für den Rest des Lebens bleiben. Sie erinnerte sich an eine großgewachsene Frau, die in einem Tempel betete, ihr Sari von exakt der gleichen roten Farbe wie das Kumkum in ihrem schwarzen Haar. Die Frau betete aber auch in einer geheimen Kirche, der sie daheim anhing. Die Frau betete in Hindi und Englisch. Hindi-Gebete wurden laut gesprochen, öffentlich, das Englische blieb vor der Welt verborgen, wurde nur zum Küchenschrank geflüstert, in dem sie ihre Kirche versteckte. Die Frau war arm, doch trug sie gestärkte Salvars und Saris, und jeden Morgen tauchten in ihrem Haar frische Jasminblüten auf. Dimple erinnerte sich daran, wie schwer das Haar der Frau war und wie lang. Sie hatte ihren Geruch geliebt, den Duft nach Holzrauch, Milch und alter Wolle, und sie erinnerte sich an die milchweiße Haut der Frau. Dann aber musste sie an die Glocken denken, Sterbeglocken, an das Wehklagen der Frau. Danach hörte sie auf, Rot zu tragen; sie trug nur noch Weiß und verhüllte sich das Gesicht mit dem Sari. Sie hörte auf zu reden, sprach nicht einmal mehr mit Dimple – dann gab die Frau sie fort. Das war ihre deutlichste Erinnerung, das vernichtete, ängstlich verzogene Gesicht ihrer Mutter, als sie Dimple dem Priester übergab.
    Sie gingen zum Strand, vorbei an einer Bar, aus der ein stetes, blechernes Wummern drang. Zu jeder Tages- und Nachtstunde kamen Männer aus dieser Bierkaschemme, um beim Paanwallah nebenan vorbeizuschauen, dessen Rammler-Special mit einem klammheimlichen Schuss reinen, ungeschnittenen Kokains dafür sorgte, dass ein Mann die ganze Nacht durchhielt, zumindest behaupteten das einige von Dimples Kunden.
Do palang tod
, sagte sie zum Paanwallah, der ihr zwei in Zeitungspapier gewickelte Rammler-Specials reichte. Dann gingen sie am schmiedeeisernen Gitter des Wilson College vorbei zum Strand, reihten sich ein in die Grüppchen, die über den Sand spazierten oder sich im Schatten der Bäume sammelten. Sie standen am Wasser, aßen Paan, spuckten den Saft aus, lachten und kauten. Das Paan war scharf und süß, betäubte den Mund und zauberte ein glückliches Leuchten in ihre Augen. Männer schauten sie an, wie Männer es nun mal tun, die Blicke ruhten auf ihrer Frische, der weißen Haut, den schwarzen Augen und den roten Hennagirlanden, die sich vom Zeigefinger bis zum Handgelenk zogen. Eine Strähne löste sich, und Dimple blieb stehen, um das Haar zu einem Knoten aufzubinden; und ihre Verehrer verharrten ebenfalls, beobachteten jede ihrer Bewegungen. Sie sahen Gesundheit und Gutmütigkeit in ihren Rundungen, und entdeckten noch mehr, etwas Berechnendes, eine professionelle Distanz im Blick, einen nahezu vorsätzlichen Schimmer auf Haut und Zähnen. Und eine Woge geschärfter Wachsamkeit und wachsenden Interesses rollte über die Köpfe der Spaziergänger am Strand hinweg und wurde von den Männern zu ihr zurückgespült.
    •••
    Ihr Busen war voller und die Stelle zwischen den Beinen längst zu einer Narbe verheilt, der Schmerz in Rücken und Ellbogen aber war etwas Neues. Sie konnte ihn unablässig spüren, ein lauernder Schmerz, selbst wenn er ihr nicht gerade zu

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