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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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Sie sagte, er habe Glück gehabt, woanders neu anfangen zu können. Er machte eine Geste mit den Schultern, eine winzige Geste, die ihr das genaue Ausmaß seines Unglücks verriet. Und sie verstand, dass seine Erinnerungen an die Heimat mit der Zeit milder geworden waren, dass alles aber, was er ihr über Indien erzählte, von seinem Widerwillen geschärft wurde. Er sagte: Hier alles zu schnell, zu laut, zu verrückt. Indern ist Vergangenheit egal, sie interessiert nur Hier und Jetzt. Sie denken zu viel ans Essen, zu wenig ans Morgen. Wage zu träumen. Wage zu träumen. Willst du groß werden, musst du dich drehen wie Schneeball. Er musste ihr erklären, was ein Schneeball ist.
    Im Blechkoffer lag eine Uniform, und sie bat ihn, sie anzuziehen, eine Uniform mit Stehkragen, schmalen Epauletten und Abzeichen auf der Brust. Sie stand ihm, und das Schiffchen verwandelte ihn. Er füllte die Uniform aus, als wäre er jünger und größer geworden. Sie sah die Orden und begriff, was für ein wichtiger Mann er gewesen sein musste. Geh darin aus, und die Frauen bezahlen dich, sagte sie. Sein Lächeln war schüchtern, ein kurzes, scheues Aufflackern, der Geist eines Lächelns, das er vor langer Zeit einmal gelächelt hatte.
    •••
    Er brauchte eine Weile, genügend Mut aufzuraffen, Mut für jene Frage, die ihr schon so oft gestellt worden war: Wie haben sie es getan? Und: Hat es sehr wehgetan? Sie antwortete beiläufig, fast, als redete sie über eine neue Frisur oder einen Schulausflug. Das berührte Lee stärker, als hätte sie geweint oder geflucht. Wird man jung operiert, sagte sie, wird man schneller zur Frau; und da sie noch keine zehn Jahre alt gewesen war, hatte man ihr beides auf einen Schlag genommen. Älteren Jungen werden nur die Hoden entfernt. Kastration. Sie benutzten das lateinische Wort. In ihrem Fall: Kastrieren und Kupieren.
    »Ich war neun, vielleicht auch erst acht«, sagte Dimple. »Und es passierte ein Jahr nach meiner Ankunft im Hijra-Bordell in Bombay. Eine Frau wurde geholt, Shantibai, eine berühmte Daima. Es wurde gesungen, getanzt, und es gab Whisky. Die Daima sagte, ich solle den Namen der Göttin singen, und sie gab mir einen roten Sari. Sie ließ mich Whisky trinken. Er schmeckte scheußlich, aber ich trank ihn trotzdem. Sie gaben mir Opium. Dann hielt man mich zu viert fest. Für Penis und Hoden benutzten sie gespaltenen Bambus, und sie hielten mich fest. Der Bambus war scharf; ich habe nichts gespürt; erst hinterher, als man Öl auf die Wunde goss. Erst da habe ich Schmerzen gefühlt und mehr noch, etwas Seltsames, ich war überzeugt, der Schmerz würde mich befreien. Es brannte, als sie das Öl über mich gossen, aber das war gut so, denn es bedeutete, die Blutung würde stoppen.«
    »Man hat dich nicht gebracht zu Arzt?«
    »Ich hätte einen Arzt verlangen können, aber wer respektiert schon Doktor Nirwan? Man braucht schließlich nur ein Narkosemittel und etwas Medizin. Man riskiert ja nicht sein Leben.«
    Lee stellte weitere Fragen.
    »Meine Mutter brachte mich hierher nach 007 und übergab mich der Tai. Ich war sieben, acht Jahre alt. Über sie oder das Leben vorher weiß ich nicht mehr viel. Ich will mich auch nicht daran erinnern.«
    »Richtig so. Am besten, man vergisst.«
    »Warum sich erinnern und traurig werden?«
    »Warum sich erinnern, wenn Erinnerungen doch alle falsch. ALLE FALSCH .«
    »Ja, ja, am besten, man vergisst.«
    »Wie ich gesagt.«
    •••
    Er nahm sie mit nach Chowpatty, trank mit ihr einen Milchshake im Rajasthan Lassi oder aß ein
pista kulfi
im Cream Center, ein Sandwich am Strand. Es war Dezember, seine liebste Jahreszeit. Er sagte: Dies Bombay? Hier gibt’s bloß ein, zwei schöne Monate im Jahr, Dezember und Januar; übrige Zeit ist es kein Ort für Menschen. Um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen, wies er mit einem Kopfnicken auf den Anblick, der sich ihnen bot. Es war ein Wochentag, aber der Strand war überfüllt: Menschen spazierten müßig umher, streunende Hunde schliefen zusammengerollt unter Bäumen. Wo Straßenverkäufer Erdnüsse anboten, gezuckerte Tamarinde oder Kopfmassagen mit Kokosnussöl, brannte die eine oder andere Laterne. Ein kleiner Junge lag begraben im Sand, nur Kopf und Hände waren zu sehen, neben sich ein Taschentuch mit einem kläglichen Häuflein Münzen. Der Junge hielt die Augen geschlossen, und er murmelte vor sich hin. Mr Lee stemmte seinen Spazierstock in den Sand und sah zu den Lichtern am Horizont hinüber, einer

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