Narkosemord
Jeffrey.
»Jetzt vielleicht nicht. Aber später wirst du welchen kriegen.«
»Das bezweifle ich.«
»Ich kenne dich. Du wirst Hunger kriegen. Ich kaufe uns etwas zum Abendessen ein. Also, was willst du?«
»Kauf, was du möchtest«, erwiderte Jeffrey und stieg in den Wagen. »So, wie ich mich fühle, kann ich mir nicht vorstellen, daß ich etwas essen will.«
Zu Hause angekommen, fuhr er in die Garage und ging dann geradewegs in sein Zimmer. Seit einem Jahr bewohnten sie getrennte Zimmer. Es war Carols Idee gewesen, aber Jeffrey hatte überrascht gemerkt, daß er sich sofort dafür erwärmt hatte. Es war eines der ersten Anzeichen gewesen, daß ihre Ehe nicht mehr so war, wie sie hätte sein sollen.
Jeffrey schloß die Tür hinter sich und verriegelte sie. Sein Blick wanderte zu seinen Büchern und den sorgfältig nach ihrer Größe im Regal geordneten Zeitschriften. Das alles würde er vorläufig nicht mehr brauchen. Er trat an das Bücherregal, nahm Bromages Epiduralanästhesie heraus und schleuderte das Buch gegen die Wand. Es schlug ein kleines Loch in den Putz und polterte auf den Boden. Aber danach fühlte er sich nicht besser. Im Gegenteil, er hatte jetzt ein schlechtes Gewissen, und die Anstrengung vergrößerte seine Erschöpfung. Er hob das Buch auf, strich ein paar verknickte Seiten glatt und schob es wieder an seinen Platz. Gewohnheitsmäßig richtete er den Buchrücken an den anderen Bänden aus.
Er ließ sich schwer in den Ohrensessel am Fenster fallen und starrte leeren Blicks hinaus auf den Hartriegel, dessen welke Frühjahrsblüten ihren Höhepunkt längst hinter sich hatten. Große Traurigkeit erfaßte ihn. Er wußte, daß er dieses Selbstmitleid von sich abschütteln mußte, wenn er noch irgend etwas erreichen wollte. Er hörte Carols Wagen herankommen und die Tür zuschlagen. Ein paar Minuten später klopfte es leise an seine Zimmertür. Er rührte sich nicht; vermutlich würde sie dann glauben, er schlafe. Er wollte allein sein.
Jeffrey kämpfte mit einem immer stärker werdenden schlechten Gewissen. Vielleicht war das der schlimmste Teil, wenn man verurteilt worden war. Sein Selbstvertrauen war untergraben, und er fragte sich wieder, ob er bei der Anästhesie an jenem schicksalhaften Tag vielleicht doch einen Fehler begangen hatte. Vielleicht hatte er die falsche Konzentration verwendet. Vielleicht trug er die Schuld an Patty Owens Tod.
Die Zeit verging, und Jeffreys bedrückte Gedanken rangen mit einem wachsenden Gefühl der Wertlosigkeit. Alles, was er je getan hatte, kam ihm dumm und sinnlos vor. In allem war er gescheitert, als Anästhesist und als Ehemann. Nichts fiel ihm ein, was ihm gelungen wäre. Er hatte es nicht mal geschafft, auf der High-School ins Basketballteam zu kommen.
Als die Sonne im Westen niedersank und den Horizont berührte, hatte Jeffrey das Gefühl, sie gehe über seinem ganzen Leben unter. Nur wenige Leute, dachte er, ahnten, welch gewaltigen Tribut solche Kunstfehlerklagen vom emotionalen und professionellen Leben eines praktizierenden Arztes forderten, besonders wenn gar kein Kunstfehler vorlag. Selbst wenn er den Prozeß gewonnen hätte, wäre sein Leben damit für immer verändert gewesen, das wußte er. Die Tatsache, daß er verloren hatte, war um so verheerender. Und mit Geld hatte das alles nichts zu tun.
Er sah zu, wie die Farbe des Himmels sich von warmem Rot in kaltes Lila und Silber verwandelte, während das Licht verebbte und der Tag erstarb. Und als er so dasaß und das Zwielicht sich um ihn herum zusammenzog, hatte er plötzlich eine Idee. Es stimmte nicht ganz, daß er hilflos war. Er konnte etwas tun, um sein Geschick zu verändern. Zum erstenmal seit Wochen erfüllte ihn ein Gefühl der Zielstrebigkeit. Er stemmte sich aus dem Sessel hoch, ging zum Wandschrank, holte seine große schwarze Arzttasche heraus und stellte sie auf den Sekretär.
Aus der Tasche nahm er zwei kleine Flaschen Infusionslösung, zwei Infusionsbestecke und eine Kopfhautkanüle.
Dann suchte er zwei Ampullen hervor, eine mit Succinylcholin, die andere mit Morphium. Mit einer Injektionsspritze zog er 75 mg Succinylcholin auf und spritzte es in eine der Infusionslösungen. Anschließend zog er 75 mg Morphium auf, eine gewaltige Dosis.
Einer der Vorteile, die das Dasein eines Anästhesisten mit sich brachte, bestand darin, daß Jeffrey wußte, wie man auf die effektivste Weise Selbstmord beging. Andere Ärzte wußten das nicht, obgleich sie bei ihren Versuchen immer noch
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