Narkosemord
fundamental verstörendes Ereignis. Vielleicht hätte es ihn überfordert, einer solchen Sache ins Gesicht zu sehen, denn das wäre die Art von persönlicher Betrachtung gewesen, die er wie alle Ärzte zu vermeiden gelernt hatte; »klinische Distanz« war die Bezeichnung für dieses Vermeidungsverhalten.
Was für eine Verschwendung, dachte er, als er sich in Erinnerung rief, wie er Chris das letztemal gesehen hatte, bevor das Schreckliche passiert war. Und wenn Carol ihn nicht gestört hätte, hätten dann nicht bald andere das gleiche über ihn gedacht?
Nein, sagte er sich, Selbstmord war kein Weg. Jetzt jedenfalls noch nicht. Er haßte rührselige Redensarten, aber - wo Leben war, da war auch Hoffnung. Und was war denn passiert, nachdem Chris Selbstmord begangen hatte? Nach seinem Tod war niemand dagewesen, der seinen Namen verteidigt oder reingewaschen hätte. Bei aller Verzweiflung und zunehmender Depression war Jeffrey immer noch empört über ein System, das ihm den Prozeß hatte machen und ihn verurteilen können, obwohl er keinen Fehler begangen hatte. Konnte er eigentlich ruhen, solange er nicht sein Bestes getan hatte, um seinen Namen zu rehabilitieren?
Jeffrey wurde schon bei dem Gedanken an seinen Fall wütend. Für die beteiligten Juristen, vielleicht auch für Randolph, war das alles nur Alltagsgeschäft, aber nicht für Jeffrey. Sein Leben stand hier auf dem Spiel. Seine Karriere. Alles. Die große Ironie bestand darin, daß Jeffrey sich ausgerechnet bei Patty Owen so sehr bemüht hatte, alles zu tun, was in seinen Kräften gestanden hatte. Er hatte sich die Infusion und das Paregoricum ja nur verabreicht, um die Arbeit tun zu können, für die er ausgebildet worden war. Engagement war sein Motiv gewesen, und so zahlte man es ihm heim.
Sollte er jemals in die Medizin zurückkehren können, würde er befürchten müssen, daß dieser Fall langfristige Auswirkungen auf jede medizinische Entscheidung haben würde, die er zu treffen hätte. Welche Art Fürsorge konnten die Leute von Ärzten erwarten, die gezwungen waren, in dieser von Schadenersatzklagen geprägten Atmosphäre zu arbeiten, ihren geschulten Instinkt im Zaum zu halten und sich jeden Schritt zweimal zu überlegen? Und wie hatte ein solches System sich entwickeln können? Jeffrey wußte es nicht, aber jedenfalls ging es nicht darum, die wenigen »schlechten« Ärzte zu eliminieren, die ironischerweise ohnehin selten verklagt wurden. Tatsächlich fügte es sich so, daß viele gute Ärzte vernichtet wurden.
Jeffrey wusch sich, bevor er in die Küche hinunterging, und dabei zerrte sein Geist eine weitere unbewußt verdrängte Erinnerung ans Licht. Einer der besten und engagiertesten Internisten, denen er je begegnet war, hatte sich vor fünf Jahren das Leben genommen, und zwar noch am Abend des Tages, an dem er eine Vorladung wegen eines Kunstfehlers erhalten hatte. Hatte sich mit einem Jagdgewehr in den Mund geschossen. Er hatte die Voruntersuchung und erst recht den Prozeß gar nicht erst abgewartet. Jeffrey war damals beunruhigend ratlos gewesen; jeder hatte nämlich gewußt, daß die Klage unbegründet gewesen war. Die Ironie des Ganzen bestand darin, daß der Arzt dem Patienten sogar das Leben gerettet hatte. Jetzt ahnte Jeffrey halbwegs, woher die Verzweiflung des Mannes gekommen sein mochte.
Nachdem er im Bad fertig war, ging er in sein Zimmer zurück und zog sich eine andere Hose und ein frisches Hemd an. Als er die Tür öffnete, roch er das Essen, das Carol gekocht hatte. Hunger hatte er noch immer nicht, aber er würde sich bemühen. Oben an der Treppe blieb er noch einmal stehen und gelobte sich, die depressiven Gedanken, die ihm zweifellos kommen würden, zu bekämpfen, bis diese Sache zu Ende war. Mit diesem Vorsatz ging er hinunter in die Küche.
2
Dienstag, 16. Mai 1989, 9 Uhr 12
Jeffrey schrak aus dem Schlaf hoch und sah erstaunt, wie spät es war. Das erstemal war er gegen fünf Uhr morgens aufgewacht und hatte sich verwundert im Sessel am Fenster gefunden. Steifbeinig hatte er sich ausgezogen und ins Bett gelegt. Er hatte geglaubt, er würde nicht wieder einschlafen können. Aber offensichtlich war es ihm doch gelungen.
Er duschte rasch. Dann trat er aus seinem Zimmer und sah sich nach Carol um. Bis zu einem gewissen Grad hatte er sich aus den depressiven Tiefen des vergangenen Tages hochrappeln können, und jetzt sehnte er sich nach menschlichem Kontakt und etwas Mitgefühl. Hoffentlich war Carol nicht zur
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