Narkosemord
der parasympathische, der bei den Patienten Noble und Owen betroffen gewesen war. Eine unmittelbare Erklärung gab es dafür nicht.
Ein dumpfer Schlag gegen die Wand riß Jeffrey aus seiner tiefen Konzentration; dann drang das übertriebene Gestöhn gespielter Ekstase aus dem Nachbarzimmer herüber. Ungebeten stieg das Bild des pickligen Mädchens und des glatzköpfigen Mannes vor seinem geistigen Auge auf. Das Stöhnen schwoll in einer Art Crescendo an und ließ dann gleich wieder nach.
Jeffrey trat ans Fenster und streckte sich. Wieder überflutete ihn das rote Neonlicht. Eine Gruppe Obdachloser drängte sich rechts neben der Eingangstreppe des Essex, vermutlich vor dem Schnapsladen. Ein paar junge Huren standen am Bordstein. Seitlich waren zwei junge Schlägertypen, die, als gehörte hier alles ihnen, Interesse an den Vorgängen auf der Straße erkennen ließen. Ob es Zuhälter oder Rauschgiftdealer waren, konnte Jeffrey nicht sagen. Was für eine Gegend, dachte er.
Er wandte sich vom Fenster ab; er hatte genug gesehen. Chris’ Notizen waren auf dem Bett verteilt. Das Gestöhne nebenan hatte aufgehört. Jeffrey versuchte, noch einmal die Liste der möglichen Erklärungen für die beiden Unglücksfälle Noble und Owen Revue passieren zu lassen. Dabei konzentrierte er sich ein weiteres Mal auf den Gedanken, der Chris in seinen letzten Tagen verzehrt hatte: die Möglichkeit einer Kontamination des Marcains. Angenommen, daß weder er selbst noch Chris einen groben medizinischen Fehler begangen hatte - daß beispielsweise er im Falle Owen nicht das 0,75prozentige Marcain benutzt hatte, das im Abfallbehälter gefunden worden war - , und in Anbetracht dessen, daß beide Patienten unerwartete parasympathische Symptome gezeigt hatten, ohne daß allergische oder anaphylaktische Reaktionen vorgelegen hatten, hatte Chris’ Theorie einer Kontamination ein beträchtliches Gewicht.
Jeffrey kehrte zum Fenster zurück und dachte daran, was es bedeuten würde, wenn das Marcain verunreinigt gewesen wäre. Wenn er diese Theorie beweisen könnte, würde dies ein gutes Stück dazu beitragen, ihn im Fall Owen zu rehabilitieren. Die Verantwortung würde dem Pharmaunternehmen zufallen, das das Medikament hergestellt hatte. Jeffrey wußte nicht genau, wie die Justizmaschinerie arbeiten würde, wenn eine solche Theorie erst bewiesen wäre. Angesichts seiner jüngsten Erfahrungen mit diesem System wußte er, daß seine Mühlen nur langsam mahlen würden - aber mahlen würden sie. Vielleicht wußte Randolph einen Weg, die Sache ein bißchen zu beschleunigen. Jeffrey lächelte bei diesem wunderbaren Gedanken: Vielleicht wären sein Leben und seine Laufbahn ja doch noch zu retten. Aber wie wollte er nachweisen, daß eine Ampulle, die er vor neun Monaten verwendet hatte, kontaminiert gewesen war?
Plötzlich hatte Jeffrey einen Einfall. Er stürzte sich auf die Notizen, um die Zusammenfassung des Krankenberichtes über Henry Noble noch einmal zu lesen. Sein spezielles Interesse galt der Abfolge der einleitenden Ereignisse bei der Epiduralanästhesie.
Chris hatte für seine Testdosis 2 ml Marcain aus einer 30-ml-Ampulle entnommen und selbst Epinephrin 1:200.000 hinzugefügt. Unmittelbar nach dieser Testdosis hatte bei Henry Noble die Reaktion eingesetzt. Bei Patty Owen hatte Jeffrey im OP eine neue 30-ml-Ampulle Marcain angebrochen. Nach der Injektion dieses Marcains hatte bei ihr die Reaktion begonnen. Für die Testdosis hatte er eine separate 2-ml-Ampulle Spinal-Marcain genommen, wie er es immer tat. Wenn Marcain kontaminiert gewesen war, so mußte es in beiden Fällen die 30-ml-Ampulle gewesen sein. Das würde bedeuten, daß Patty eine substantiell größere Dosis als Henry Noble abbekommen hatte - eine volle therapeutische Dosis nämlich und nicht die Testdosis von 2 ml. Das würde erklären, weshalb Pattys Reaktion so viel heftiger ausgefallen war als Nobles und weshalb Noble noch eine Woche gelebt hatte.
Zum erstenmal seit Monaten sah Jeffrey einen Hoffnungsschimmer: Vielleicht war sein altes Leben noch nicht unrettbar verloren. Er konnte es noch zurückbekommen. Vor Gericht hatte er nie an die Möglichkeit einer Kontamination gedacht. Aber jetzt erschien sie ihm sehr real. Doch dies alles zu untersuchen - und erst recht, es zu beweisen - erforderte Zeit und beträchtliche Mühe. Was wäre der erste Schritt?
Zunächst brauchte er mehr Informationen. Das hieß, er mußte seine Kenntnisse über die Pharmakokinetik der
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