Narkosemord
Lokalanästhetika und über die Physiologie des autonomen Nervensystems aufpolieren. Das würde relativ einfach sein. Dazu brauchte er nur Bücher. Schwieriger würde es werden, die Kontaminationstheorie zu erforschen. Dazu brauchte er den kompletten Pathologiebericht über Patty Owen. Im Verlauf der Ermittlungen hatte er nur einen Teil davon gesehen. Dazu kam die Frage, die Kelly gestellt hatte: Wie erklärte sich die Existenz der 0,75prozentigen Marcain-Ampulle, die sich im Abfallbehälter des Narkoseapparates gefunden hatte? Wie war die dorthin gekommen?
Unter günstigsten Umständen wäre es schwierig gewesen, diesen Fragen nachzugehen. Für ihn als flüchtigen Straftäter war es so gut wie unmöglich. Er mußte ins Boston Memorial hineingelangen. Konnte er das?
Jeffrey ging ins Bad. Er blieb vor dem Spiegel stehen und betrachtete sein Gesicht im roten Licht der Leuchtstoffröhre. Konnte er sein Aussehen so weit verändern, daß man ihn nicht mehr erkennen würde? Im Boston Memorial war er seit seinen Studientagen ein und aus gegangen. Hunderte von Leuten kannten ihn vom Sehen.
Jeffrey legte eine Hand auf die Stirn und strich sich das hellbraune Haar zurück. Dann kämmte er es zur Seite, scheitelte es rechts. Wenn er es zurückhielt, ließ es seine Stirn breiter erscheinen. Er hatte nie eine Brille getragen. Vielleicht sollte er sich eine besorgen. Und in den meisten Jahren seiner Tätigkeit im Boston Memorial hatte er einen Schnurrbart gehabt. Den konnte er abrasieren.
Fasziniert von diesem aufregenden Gedanken, ging Jeffrey nach nebenan, um sein Rasierzeug zu holen, und kehrte dann zum Badezimmerspiegel zurück. Er seifte sich ein und rasierte rasch den Schnurrbart ab. Es war ein merkwürdiges Gefühl, mit der Zunge über eine nackte Oberlippe zu fahren. Er feuchtete sein Haar an und kämmte es aus der Stirn nach hinten. Das Ergebnis war ermutigend; er sah schon aus wie ein neuer Mensch.
Als nächstes rasierte er sich die moderat gehaltenen Koteletten ab. Der Unterschied war nicht groß, aber er dachte sich, daß jede Kleinigkeit das ihre tat. Ob er sich als Arzt ausgeben konnte? Das Fachwissen hatte er; was er brauchte, war ein Ausweis. Die Sicherheitsmaßnahmen im Boston Memorial waren beträchtlich verstärkt worden - ein Zeichen der Zeit. Wenn man ihn aufforderte, sich auszuweisen, säße er in der Falle. Aber er mußte in die Klinik, und nur die Ärzte hatten Zutritt zu allen Bereichen.
Jeffrey dachte nach. Er wollte nicht aufgeben. Ja, da war noch eine Gruppe, die überall hinkam: die Putzkolonne. Niemand hielt das Reinigungspersonal an. Jeffrey hatte viele Nächte im Bereitschaftsdienst im Krankenhaus verbracht, und er konnte sich erinnern, daß er die Mitarbeiter der Hausmeisterei überall gesehen hatte. Niemand stellte ihnen jemals Fragen. Jeffrey wußte auch, daß es bei ihnen eine Art Hundewache gab, die Nachtschicht von elf Uhr abends bis sieben Uhr morgens, und daß es immer schwierig gewesen war, dafür Leute zu finden. Die Nachtschicht wäre genau richtig, dachte Jeffrey. Es wäre weniger wahrscheinlich, daß er Leuten über den Weg lief, die ihn kannten. In den letzten Jahren hatte er hauptsächlich Tagdienst gehabt.
Dieser neue Kreuzzug hatte ihm frische Energie gegeben, und Jeffrey brannte darauf, sofort anzufangen. Das erste, was er zu erledigen hatte, war ein Besuch in der Bibliothek.
Wenn er sofort losginge, hätte er noch eine Stunde Zeit, bis sie geschlossen wurde. Rasch schob er Chris’ Notizen in das Fach, das er in seinem Aktenkoffer dafür frei gemacht hatte, klappte den Koffer zu und verschloß ihn.
Er sperrte seine Zimmertür hinter sich ab, was immer das nützen mochte. Auf der Treppe blieb er einen Moment lang stehen. Der muffige, saure Geruch erinnerte ihn an O’Shea. Jeffrey hatte seinen Atem zu riechen bekommen, als O’Shea ihn am Flughafen gepackt hatte.
Während er sich seinen Plan zurechtlegte, hatte er versäumt, O’Shea mit einzubeziehen. Jeffrey wußte, daß es Kopfgeldjäger gab, und O’Shea war zweifellos einer. Er machte sich keine Illusionen über das, was passieren würde, wenn O’Shea ihn erwischen sollte - erst recht nicht nach dem Zwischenfall am Flughafen. Nach kurzem Zögern schritt Jeffrey weiter die Treppe hinunter. Wenn er der Sache auf den Grund gehen wollte, mußte er ein Risiko eingehen, aber es wäre trotzdem ratsam, immer auf der Hut zu sein. Außerdem würde er vorausdenken müssen, damit er, sollte er das Pech haben, O’Shea noch
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