Narkosemord
eine der Lesezellen am Innenhof und schloß die Tür hinter sich. Binnen weniger Minuten hatte er sich in den Windungen der Nervenimpulsleitung verloren.
Nicht lange, und Jeffrey hatte verstanden, weshalb Chris das Wort »nikotinisch« unterstrichen hatte. Die meisten Menschen hielten Nikotin für einen aktiven Bestandteil von Zigaretten, aber tatsächlich war es eine Droge, ein Gift, genauer gesagt, das die Stimulation und dann die Blockade autonomer Ganglien bewirkte. Viele der durch Nikotin hervorgerufenen Symptome waren die gleichen wie bei Muscarin: Speichel- und Tränenfluß, Schwitzen und Leibschmerzen - eben die Symptome, die bei Patty Owen und bei Henry Noble aufgetreten waren. Schon in bemerkenswert geringer Konzentration führte der Stoff zum Tode.
Wenn Jeffrey also nach einem Kontaminans suchte, müßte es sich um ein Präparat handeln, das bis zu einem gewissen Punkt einem Lokalanästhetikum entsprach, wie beispielsweise Nikotin. Doch Nikotin konnte es nicht gewesen sein, dachte Jeffrey. Der toxikologische Befund bei Henry Noble war negativ gewesen; eine Droge wie Nikotin aber hätte man festgestellt.
Wenn es also eine Kontamination gewesen war, mußte es sich um eine extrem kleine, nanomolare Menge handeln. Infolgedessen mußte der Stoff extrem wirksam sein. Jeffrey war ratlos. Aber bei der Lektüre stolperte er über etwas, woran er sich vom Studium her erinnerte, das ihm aber seitdem nicht wieder in den Sinn gekommen war. Das Toxin Botulinum, eine der für den Menschen giftigsten Substanzen überhaupt, entsprach einem Lokalanästhetikum insofern, als es Neuralzellmembranen an der Synapse »einfrieren« konnte. Aber Jeffrey wußte, daß er es nicht mit einer Botulinvergiftung zu tun hatte. Die Symptome waren völlig anders; Muscarineffekte waren Blockaden, keine Stimulationen.
Noch nie war die Zeit so schnell vergangen. Ehe Jeffrey sich versah, schloß die Bibliothek für den Abend. Widerstrebend sammelte er Chris Eversons und auch die eigenen, frisch angefertigten Notizen ein. Mit den Büchern in der einen und dem Aktenkoffer in der anderen Hand ging er ins Erdgeschoß hinunter. Er legte die Bücher auf die Theke, damit sie wieder eingestellt werden konnten, und wollte zur Tür, aber abrupt blieb er stehen.
Die Leute vor ihm wurden von einem Bibliotheksmitarbeiter angehalten und mußten Tüten, Taschen und selbstverständlich auch Aktenkoffer kontrollieren lassen. Es war ein normales Verfahren, um den Verlust von Büchern so gering wie möglich zu halten, aber es war ein Verfahren, an das Jeffrey nicht mehr gedacht hatte. Ungern stellte er sich vor, wie der Kontrolleur reagieren würde, wenn er die Hunderter-Bündel sähe. Damit wäre alle Unauffälligkeit beim Teufel.
Jeffrey verdrückte sich in die Zeitschriftenabteilung und duckte sich hinter ein schulterhohes Regal. Hier klappte er seinen Koffer auf und stopfte sich die Geldbündel in die Taschen. Um Platz zu machen, zog er die Wodkaflasche aus der Jackentasche und legte sie in den Aktenkoffer. Es wäre besser, der Wärter hielt ihn für einen heimlichen Säufer statt für einen Rauschgiftdealer oder Dieb.
Es gelang ihm, die Bibliothek ohne Zwischenfall zu verlassen. Mit seinen ausgebeulten Taschen kam er sich ziemlich auffällig vor, aber das ließ sich im Moment nicht ändern.
Um diese Zeit gab es auf der Huntington Avenue praktisch kein Taxi. Nachdem er zehn Minuten lang erfolglos gewartet hatte, kam der O-Bus der Green Line vorbei. Jeffrey stieg ein; es war sicher klüger, in Bewegung zu bleiben.
Jeffrey setzte sich auf eine der Längsbänke und balancierte den Aktenkoffer auf den Knien. Er fühlte all die Geldpakete in seinen Hosentaschen, vor allem die, auf denen er saß. Als der Bus sich schaukelnd in Gang setzte, ließ Jeffrey seinen Blick umherwandern. Wie er es aus der Bostoner U-Bahn kannte, sagte kein Mensch ein Wort. Alle starrten ausdruckslos vor sich hin, als seien sie in Trance. Jeffreys Blicke trafen sich mit denen der Fahrgäste, die auf der gegenüberliegenden Bank saßen. Wenn die Leute seinen Blick mürrisch erwiderten, hatte er das Gefühl, durchsichtig zu sein. Es erstaunte ihn, wie viele von ihnen auf ihn den Eindruck von Verbrechern machten.
Er schloß die Augen und ging im Geiste noch einmal das Material durch, das er soeben gelesen hatte, und er betrachtete es im Licht dessen, was er mit Patty Owen und Chris mit Henry Noble erlebt hatte. Eine Information über Lokalanästhetika war überraschend gewesen. Unter
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