Narkosemord
einmal gegenüberzustehen, irgendeinen Plan hatte. Der Mann mit der Illustrierten im Foyer war nicht mehr da, aber der Portier schaute sich immer noch das Baseballspiel an. Jeffrey schlüpfte unbemerkt hinaus. Ein gutes Zeichen, dachte er und lachte in sich hinein. Sein erster Versuch, nicht gesehen zu werden, war ein Erfolg. Seinen Humor hatte er wenigstens noch nicht verloren.
Aller Optimismus, den Jeffrey hatte heraufbeschwören können, verging ihm, als er die Straßenszene vor sich sah. Eine Woge akuter Paranoia rollte über ihn hinweg, als ihm die zweifache Realität als Flüchtling und als Träger von fünfundvierzigtausend Dollar in bar bewußt wurde. Genau gegenüber, im Schatten des Hauseingangs eines leeren Gebäudes, standen die beiden Männer, die er vom Fenster aus gesehen hatte, und rauchten Crack.
Jeffrey umklammerte den Griff seines Aktenkoffers und stieg die Stufen vor dem Eingang des Essex hinunter. Er paßte auf, nicht auf den Betrunkenen zu treten, der sich immer noch mit seiner Flasche in der braunen Tüte auf dem Gehsteig wälzte.
Jeffrey wandte sich nach rechts. Er gedachte, zum fünf oder sechs Straßen entfernten Lafayette Center, zu dem auch ein gutes Hotel gehörte, zu Fuß zu gehen. Dort würde er sich ein Taxi rufen.
Auf der Höhe des Schnapsladens entdeckte Jeffrey einen Polizeiwagen, der ihm entgegenkam. Ohne einen Augenblick zu zögern, drückte er sich in den Laden. Das Geschepper der Glöckchen über der Ladentür zerrte an seinen Nerven. So verrückt es auch war, er wußte nicht, vor wem er mehr Angst hatte, vor den Straßenleuten oder vor der Polizei.
»Was darf’s denn sein?« fragte ein bärtiger Mann hinter der Theke. Der Polizeiwagen draußen verlangsamte seine Fahrt und rollte dann vorbei. Jeffrey holte tief Luft. Leicht würde das alles nicht werden.
»Was darf’s denn sein?« wiederholte der Verkäufer.
Jeffrey kaufte eine Halbliterflasche Wodka. Wenn die Polizei noch einmal zurückkäme, sollte sein Besuch in diesem Schnapsladen ganz normal erscheinen. Aber es war nicht nötig. Als er auf die Straße trat, war der Polizeiwagen nirgends mehr zu sehen. Erleichtert wandte Jeffrey sich nach rechts und wollte eilig weitergehen, aber da wäre er fast mit einem der Obdachlosen zusammengeprallt, die er schon gesehen hatte. Erschrocken hob er die freie Hand, um sich zu schützen.
»Hast’n bißchen Kleingeld, Kumpel?« fragte der Mann lallend. Er war offensichtlich betrunken. An seiner Schläfe leuchtete eine frische Platzwunde. Eines der Gläser seiner schwarzgeränderten Brille hatte einen Sprung.
Jeffrey wich zurück. Der Mann war etwa so groß wie er selbst, aber sein Haar war dunkel, fast schwarz. Ein dichter Stoppelbart bedeckte sein Gesicht; er hatte sich schätzungsweise seit einem Monat nicht mehr rasiert. Doch was Jeffrey vor allem auffiel, waren die Kleider des Mannes. Er trug einen zerfetzten Anzug mit einem schmutzigen blauen Oxford-Hemd mit Button-down-Kragen, an dem ein paar Knöpfe fehlten. Seine gestreifte Regimentskrawatte hing ihm lose um den Hals und war voller grüner Schmutzflecken. Jeffrey hatte den Eindruck, der Mann habe sich eines Tages fürs Büro angezogen und sei nie wieder nach Hause gegangen.
»Was is’n los?« fragte der Mann mit unsicherer, betrunkener Stimme. »Sprichst du kein Englisch?«
Jeffrey wühlte in seiner Hosentasche nach dem Kleingeld, das er beim Wodkakauf herausbekommen hatte. Er ließ dem Mann die Münzen in die Hand fallen und betrachtete dabei prüfend sein Gesicht. Die Augen waren zwar glasig, aber ihr Blick war freundlich. Jeffrey fragte sich, was ihn in eine so verzweifelte Lage getrieben haben mochte. Er verspürte eine seltsame Verwandtschaft zu diesem Obdachlosen und seiner unbekannten Not. Es schauderte ihn bei dem Gedanken, daß nur eine dünne Linie ihn von einem ähnlichen Schicksal trennte. Die Identifikation fiel ihm um so leichter, als der Mann etwa in Jeffreys Alter zu sein schien.
Wie erwartet, war es kein Problem, in der Nähe des Luxushotels ein Taxi zu bekommen. Von da brauchte er nur eine Viertelstunde bis zum Bereich der medizinischen Fakultät von Harvard. Kurz nach elf betrat er die Countway Medical Library.
Zwischen den Büchern und den engen Lesezellen fühlte Jeffrey sich zu Hause. An einem der Computerterminals besorgte er sich die Signaturen einiger Bücher über die Physiologie des autonomen Nervensystems und über die Pharmakologie der Lokalanästhetika. Mit den Büchern begab er sich in
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