Narkosemord
Jeffrey auf und deutete auf eine Tür hinter der Zentrale; sie führte ihn in ein Hinterzimmer, das die Schwestern als Lagerraum und als behelfsmäßiges Aufenthaltszimmer benutzten.
»Möchten Sie einen Kaffee?« fragte Kelly. Jeffrey nickte, und Kelly schenkte zwei Tassen ein. »Was ist das für eine Verkleidung?« wollte sie dann wissen.
Jeffrey stellte seine Reisetasche hin und nahm die Brille ab. Sein Nasenrücken wurde schon wund. Er griff nach der Tasse und setzte sich. Kelly lehnte sich an die Arbeitsplatte und nahm ihren Kaffeebecher in beide Hände.
Jeffrey erzählte ihr alles, was passiert war, seit er sie am Abend zuvor verlassen hatte: das Fiasko am Flughafen, seine Flucht, der Schlag mit dem Aktenkoffer gegen O’Sheas Kopf, der Kampf gegen die Handschellen.
»Dann wollten Sie also das Land verlassen«, stellte Kelly fest.
»Das war meine Absicht«, gestand Jeffrey.
»Und Sie wollten mich nicht vorher anrufen und es mir sagen?«
»Ich hätte Sie angerufen, sobald ich gekonnt hätte. Ich habe nicht allzu klar denken können.«
»Wo wohnen Sie jetzt?«
»In einer Absteige in der Stadt.«
Kelly schüttelte bestürzt den Kopf. »Oh, Jeffrey. Das klingt alles sehr übel. Vielleicht sollten Sie sich einfach der Polizei stellen. Für Ihr Revisionsverfahren kann das alles nicht gut sein.«
»In dem Moment, in dem ich mich stelle, muß ich ins Gefängnis, und vermutlich komme ich nicht wieder gegen Kaution frei. Und selbst wenn - ich glaube, ich könnte das Geld nicht noch einmal aufbringen. Aber meine Revision dürfte eigentlich von alldem nicht beeinflußt werden. Wie auch immer - ich kann nicht ins Gefängnis, weil ich zuviel zu tun habe.«
»Was heißt das?« fragte Kelly.
»Ich habe mir Chris’ Notizen angesehen.« Jeffrey konnte seine Aufregung kaum zügeln. »Ich habe sogar ein paar Recherchen in der Bibliothek angestellt. Ich glaube, Chris war da einer Sache auf der Spur, als er vermutete, das Marcain, das er Henry Noble verabreichte, könne kontaminiert gewesen sein. Ich habe nämlich allmählich den Verdacht, daß es sich mit dem Marcain, das ich Patty Owen gegeben habe, genauso verhielt. Ich will jetzt beide Fälle etwas gründlicher untersuchen.«
»Das alles bereitet mir ein unangenehmes Déjà-vu-Gefühl«, sagte Kelly. »Wieso?«
»Weil Sie genauso klingen wie Chris, als in ihm der Verdacht aufstieg, das Medikament könne kontaminiert gewesen sein. Ehe ich mich versah, hatte er Selbstmord begangen.«
»Das tut mir leid«, sagte Jeffrey. »Ich wollte in Ihnen keine schmerzlichen Gefühle wecken, indem ich die Vergangenheit aufwühle.«
»Die Vergangenheit macht mir keine Sorgen«, erwiderte Kelly. »Aber Sie. Ich mache mir Sorgen um Sie. Gestern waren Sie depressiv, heute sind Sie leicht manisch. Was wird morgen sein?«
»Mir wird’s gutgehen«, sagte Jeffrey. »Bestimmt. Ich glaube, ich bin auf der richtigen Spur.«
Kelly legte den Kopf schräg, zog eine Braue hoch und sah ihn fragend an. »Ich möchte sicher sein, daß du dich erinnerst, was du mir versprochen hast«, sagte sie leise. Er schaute ihr in die Augen. »Ich erinnere mich daran.«
»Das will ich dir auch geraten haben«, sagte sie streng. Dann lächelte sie. »Nachdem das nun geklärt ist, kannst du mir erzählen, was du an der Kontaminationsidee so aufregend findest.«
»Verschiedenes. Henry Nobles konstante Lähmung zum Beispiel. Anscheinend war sogar die Funktion der Schädelnerven dahin. Das passiert bei einer spinalen Anästhesie aber nicht, und folglich kann es keine ›irreversible Spinalanästhesie‹ gewesen sein, wie es hieß. Und bei meiner Patientin hatte danach das Kind eine konstante Lähmung mit asymmetrischer Verteilung am Körper.«
»Hielt man die Lähmung bei Noble nicht für eine Folge der Sauerstoffmangelversorgung wegen der Anfälle und Herzstillstände?«
»Ja«, sagte Jeffrey. »Aber im Autopsiebericht schrieb Chris, die mikroskopischen Sektionen hätten axonale oder Nervenzellendegeneration erkennen lassen.«
»Jetzt wird’s mir zu hoch«, gestand Kelly.
»Bei einer Sauerstoffmangelversorgung in dem geringen Ausmaß, wie sie bei Henry Noble vorkam, würde man keine Entmarkung der Nervenfasern erkennen - falls überhaupt eine Sauerstoffmangelversorgung eingetreten ist. Wenn der Sauerstoffmangel stark genug gewesen wäre, um eine Entmarkung der Nervenfasern hervorzurufen, hätten sie ihn nicht wiederbeleben können. Und bei Lokalanästhetika kommt es unter keinen Umständen zur
Weitere Kostenlose Bücher