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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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fürsorglichen Mönche sie gewarnt und sie gebeten, sie möchten sich ja in Acht nehmen. In der Gegend streife seit einiger Zeit, so sagten sie, besonders bei Vollmond ein schrecklicher
lykanthropos,
alsoein Wolfsmensch oder Werwolf, umher, also ein Mensch, den eine höllische Macht in ein wolfsähnliches Monster verwandelt habe. Diese Warnung hatte Scharley außerordentlich belustigt, und lange hatte er gelacht, dass ihm der Bauch wackelte, und über die abergläubischen Mönche gespottet. Reynevan selbst glaubte auch nicht recht an Wolfsmenschen und Werwölfe, doch hatte er zumindest nicht gelacht.
    »Ich höre Schritte«, sagte er und lauschte. »Da kommt jemand, ganz sicher.«
    In den Büschen schlug eine Elster Alarm. Die Pferde schnaubten. Ein Zweig knackte. Scharley legte die Hand über die Augen, die untergehende Sonne blendete ihn.
    »Teufel noch mal«, brummt er vor sich hin, »das hat uns in der Tat noch gefehlt. Schau doch mal, wer da zu uns kommt!«
    »Sollte das . . .«, stotterte Reynevan. »Das ist doch . . .«
    »Der Riese der Benediktiner«, bestätigte Scharley. »Der Klosterriese, der Honig fressende Beowulf, der Topfausschlecker mit dem biblischen Namen. Wie hieß der gleich noch mal? Goliath?«
    »Samson.«
    »Samson, tatsächlich. Beachte ihn gar nicht.«
    »Was tut der denn hier?«
    »Beachte ihn nicht. Vielleicht geht er weg. Weiter auf seinem Weg, egal, wohin dieser führt.«
    Es sah aber nicht danach aus, als habe Samson die Absicht, sich zu entfernen. Ganz im Gegenteil, es schien, als habe er das Ende seines Weges erreicht, denn er setzte sich auf einen drei Schritte entfernten Baumstamm. Da saß er nun und wandte ihnen sein feistes, blödes Antlitz zu. Aber er hatte ein sauberes Gesicht, viel sauberer als vorhin, und die Rotzspuren unter der Nase waren verschwunden. Auch das Gewand, das er jetzt trug, war neu und reinlich. Dennoch verströmte der Riese immer noch einen schwachen Honigduft.
    »Was soll’s«, Reynevan räusperte sich, »die Höflichkeit gebietet . . .«
    »Ich hab’s gewusst«, unterbrach ihn Scharley und seufzte, »ich habe gewusst, dass du das sagst. He, du da! Samson! Bezwinger der Philister! Hast du Hunger?«
    »Hast du Hunger?« Scharley, der keine Antwort erhalten hatte, schwenkte ein Stückchen Grützwurst, so, als würde er einen Hund oder eine Katze anlocken. »Na, verstehst du mich? Na hier, na hier! Happa-happa! Fressi-fressi! Willst du?«
    »Danke«, sagte der Riese plötzlich, unerwartet klar und deutlich, »aber ich mache lieber keinen Gebrauch davon. Ich bin nicht hungrig.«
    »Das ist eine seltsame Sache«, raunte Scharley, während er sich Reynevans Ohr zuneigte. »Wo kommt der auf einmal her? Ist der uns nachgegangen? Normalerweise läuft er doch Bruder Deodatus, unserem ehemaligen Patienten hinterher . . . Das Kloster ist gut eine Meile entfernt, um hierher zu gelangen, muss er sofort nach uns aufgebrochen sein. Und rasch unserer Spur gefolgt sein. Warum?«
    »Frag ihn doch.«
    »Ich frage ihn. Wenn die Zeit dazu gekommen ist. Lass uns vorläufig zur Sicherheit lateinisch sprechen.«
    »Bene.«
     
    Die Sonne versank immer tiefer hinter dem dunklen Wald, nach Westen fliegende Kraniche ließen ihren Ruf ertönen, und die Frösche begannen ihr lautes Konzert im Sumpf am Flüsschen. Am trockenen Hang am Waldrand erklang, wie in der Aula einer Unversität, die Sprache Vergils.
    Reynevan schilderte zum wer weiß wie vielten Male, aber zum ersten Mal auf Latein, die Erlebnisse der letzten Tage und beschrieb sie in Einzelheiten. Scharley hörte zu, oder gab vor zuzuhören. Samson, das Kraftpaket aus dem Kloster, blickte stumpfsinnig vor sich hin, und auf seinem feisten Gesicht zeichnete sich weiterhin keine Gefühlsbewegung ab.
    Reynevans Erzählung war selbstverständlich nur die Einleitung zum Hauptpunkt   – zu einem weiteren Versuch, Scharleyzu einer offensiven Aktion gegen die Sterz’ zu überreden. Es war klar, dass daraus nichts werden würde. Auch nicht, als Reynevan begann, den Demeriten mit der Aussicht auf das große Geld zu locken, wobei er keine Ahnung hatte, woher er dieses Geld im Falle eines Falles nehmen sollte. Das Problem hatte allerdings rein akademischen Charakter, denn Scharley wies das Angebot ab. Der Streit wurde heftiger, wobei sich beide Diskutanten in reichem Maße klassischer Zitate bedienten, von Tacitus bis hin zum Prediger Salomo.
    »
Vanitas vanitatum,
Reinmar! Alles ist eitel! Sei doch nicht so unüberlegt, Zorn wohnt nur in

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