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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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betrachtete sie ein Weilchen, und auf seinem verschmierten Mondgesicht zeichnete sich zunächst Unglaube, dann Erschrecken ab. Reynevan betrachtete ihn und atmete schwer. Er spürte Scharleys auffordernden Blick, aber er war nicht in der Lage, auch nur ein Wort hervorzubringen. Es ist zu Ende, dachte er, es ist zu Ende.
    Das Kraftpaket schaute immer noch auf seine Finger und fing an zu wimmern. Herzzerreißend.
    Und da stöhnte der auf der Bahre liegende Bruder Deodatus, hustete, röchelte und strampelte mit den Beinen. Dann fluchte er, ziemlich weltlich.
    »Heilige Euphrosine . . .«, stöhnte der Abt und kniete nieder. Die übrigen Mönche folgten seinem Beispiel. Scharley öffnete den Mund, schloss ihn aber geistesgegenwärtig sogleich wieder. Reynevan presste die Hände an die Schläfen und wusste nicht, ob er beten oder davonlaufen sollte.
    »Die Pest . . .«, krächzte Bruder Deodatus und setzte sich auf. »Hab’ ich einen trockenen Hals . . . Was ist? Hab ich das Abendmahl verschlafen? Da soll doch gleich die Pestilenz über euch kommen, ihr Brüder . . . Ich wollte doch bloß ein Nickerchen machen . . . Ich habe doch gebeten, ihr sollt mich zur Vesper wecken . . .«
    »Ein Wunder!«, rief einer der knienden Mönche.
    »Das Reich Gottes ist gekommen!« Ein zweiter warf sich in Kreuzeshaltung auf den Boden.
»Igitur pervenit in nos regnum Dei!«
    »Alleluia!«
    Der auf der Bahre sitzende Bruder Deodatus warf verständnislose Blicke um sich, von den knienden Confratres zu Scharley mit der Stola um den Hals, von Reynevan zum Riesen Samson, der immer noch seine Finger und seinen Bauch betrachtete, vom betenden Abt zu den Mönchen, die eben mit einem Eimer Fäkalien und einer Kupferpfanne dahergelaufen kamen.
    »Möchte mir vielleicht einer«, forderte der noch bis vor kurzem Besessene, »mal erklären, was hier vor sich geht?«

Dreizehntes Kapitel
    in dem Scharley Reynevan nach Verlassen des Benediktinerklosters seine existentielle Philosophie erklärt, die   – vereinfacht   – zu der These führt, dass heruntergelassene Hosen und ein Augenblick der Unaufmerksamkeit genügen, wenn dir jemand, der dir feindlich gesinnt ist, an den Arsch will. Etwas später bestätigt das Leben diese Ausführungen in ihrem ganzen Umfange und im Detail. Aus der Bedrängnis rettet Scharley jemand, den der Leser schon kennt, aber es scheint ihm nur so, als ob er ihn kenne.
    D as Exorzieren bei den Benediktinern, obwohl von Erfolg gekrönt, hatte Reynevans Abneigung Scharley gegenüber noch verstärkt, eine Abneigung, die sich, so kann man sagen, vom ersten Augenblick an entwickelt hatte und nach dem Zwischenfall mit dem zerlumpten Alten noch gewachsen war. Reynevan hatte wohl begriffen, dass er von dem Demeriten abhängig war und ohne ihn nicht zurechtkam, besonders bei der Aktion zur Befreiung seiner geliebten Adele hätte er allein nur äußerst geringe Erfolgschancen. Aber Einsicht hin, Einsicht her, Abhängigkeit hin, Abhängigkeit her, die Abneigung blieb, plagte und erboste ihn wie ein eingerissener Fingernagel, wie ein abgebrochener Zahn, wie ein Splitter in der Fingerkuppe. Scharleys Posen und Sprüche verschlimmerten alles nur noch.
    Zum Streit   – oder besser zum Disput   – kam es an dem Abend, als sie das Kloster verlassen hatten, in nur geringer Entfernung von Schweidnitz, wie der Demerit behauptete. Reynevan erwähnte paradoxerweise die exorzistischen Schelmenstreiche Scharleys und begann sie ihm vorzuwerfen, während sie die Gaben verzehrten, die sie dank dieser Schelmereien erhaltenhatten: Zum Abschied hatten die dankbaren Benediktiner ihnen nämlich ein dickes Bündel ausgehändigt, das, wie sich zeigte, ein Roggenbrot, ein Dutzend Äpfel, über ein Dutzend hartgekochte Eier, ein ordentliches Stück über Wacholder geräucherte Wurst und eine dicke polnische Grützwurst enthielt.
    An einer Stelle, an der ein halb verfallenes Wehr das Flüsschen staute und überfließen ließ, an einem trockenen Hang am Waldrand, saßen also unsere Wanderer, aßen und betrachteten die Sonne, die sich immer tiefer über die Wipfel der Fichten neigte. Und sie führten ein Streitgespräch. Reynevan war, indem er die ethischen Normen pries und Eulenspiegeleien verdammte, ein bisschen zu weit nach vorne geprescht. Scharley verwies ihn sofort in seine Schranken.
    »Von jemandem, der für gewöhnlich Ehefrauen anderer vögelt, erklärte er und spuckte ein Stück Eierschale aus, nehme ich keine moralischen Lehren an.«
    »Wie oft

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