Narrenturm - Roman

siehst du nicht, was nicht zu übersehen ist? Warum siehst du nicht, was offensichtlich ist? Warum . . .«
    »Weil ich anders als du nicht naiv bin. Und sehr gut weiß, wer er ist, woher er zu den Benediktinern kam, und was er von uns will.«
    »Wer also bin ich?« Der Riese lächelte keineswegs dümmlich. »Verrate es mir doch bitte. Rasch. Bevor ich vor Neugier vergehe.«
    »Du bist ein Entlaufener, sie suchen dich, Samson Honig. Ein Ausreißer. Wenn man deine Reden in Betracht zieht, höchstwahrscheinlich ein entflohener Priester. Im Kloster hast du dich vor deinen Verfolgern versteckt und den Idioten gemimt, ohne dir zu nahe treten zu wollen, deine äußere Erscheinung hat dir sehr dabei geholfen. Da du kein Dummkopf bist, hast du sofort mitbekommen, wer wir sind . . . oder besser, wer ich bin. Du hast deine Ohren hier nicht umsonst aufgesperrt. Du willst nach Ungarn fliehen und hast gewusst, dass es für dich allein schwierig sein würde. Unsere Gesellschaft, die Gesellschaft von gewitzten und kundigen Leuten, ist ein Geschenk des Himmels für dich. Du willst dich uns anschließen. Oder irre ich mich?«
    »Ja, und zwar gewaltig. Und in jedem Detail. Außer in einem: Ich habe dich tatsächlich gleich erkannt.«
    »Aha.« Scharley stand auf. »Ich irre mich also, und du sagst die Wahrheit. Also weiter, beweise es. Du bist ein übernatürliches Wesen, bist ein Bewohner der anderen Welt, und wir haben dich versehentlich mit unseren Exorzitien dort weggeholt. Dann zeig uns doch deine Macht. Lass die Erde erbeben. Lass Donner und Blitz herabfahren. Mach, dass die eben untergegangene Sonne wieder aufgeht. Mach, dass die Frösche im Sumpf anstatt zu quaken, im Chor
Lauda Sion Salvatorem
singen.«
    »Das vermag ich nicht. Und selbst wenn ich es könnte, würdest du mir glauben?«
    »Nein«, gestand Scharley. »Ich bin von Natur aus nicht leichtgläubig. Dazu sagt die Schrift: Glaubt nicht einem jeden Geist. Viele falsche Propheten sind in der Welt erschienen. Mit einem Wort: Ein Lügner trifft auf einen anderen Lügner und straft ihn Lügen.«
    »Ich mag es nicht«, erwiderte der Riese ruhig und sanft, »wenn man mich einen Lügner nennt.«
    »Ach, wirklich?« Der Demerit ließ die Arme sinken und beugte sich leicht vor. »Und was tust du? Ich zum Beispiel mag es nicht, wenn mir jemand ins Gesicht lügt. So wenig, dass es vorkommt, dass ich dem Lügner die Nase breche.«
    »Versuch es erst gar nicht.«
    Obwohl Scharley mehr als einen Kopf kleiner war als Samson, zweifelte Reynevan nicht daran, was folgen würde. Er sah es schon vor sich: Ein Tritt gegen das Schienbein, dicht unter dem Knie, der Stürzende bekommt von oben eins auf die Nase, der Knochen bricht mit einem Knirschen, und das Blut spritzt auf die Kleidung. Reynevan war sich so sicher, dass alles so ablaufen würde, dass er glaubte, nicht richtig zu sehen.
    Glitt Scharley so rasch dahin wie eine Kobra, bewegte sich der riesige Samson geschmeidig wie ein Python. Mit einer blitzschnellen Drehung hatte er den Tritt abgewehrt, geschickt mit der Schulter einen Faustschlag abgeblockt. Er sprang nach hinten. Scharley ebenfalls, seine Zähne blitzten. Ohne zu wissen, warum, warf sich Reynevan zwischen die beiden.
    »Frieden!« Er streckte die Arme aus. »
Pax!
Ihr Herren! Schämt ihr euch nicht? Benehmt euch gefälligst wie zivilisierte Menschen!«
    »Du schlägst . . .«, Scharley richtete sich auf, »du schlägst zu wie ein Dominikaner. Das bestätigt nur meine Theorie. Und Lügner mag ich immer noch nicht.«
    »Er kann die Wahrheit sagen, Scharley«, beschwor ihn Reynevan.
    »Wirklich?«
    »Wirklich. Solche Dinge sind schon vorgekommen. Es gibtParallelexistenzen, unsichtbare . . . Astralwelten . . . Man kann mit ihnen in Verbindung treten, es gab auch schon . . . hmmm . . . Fälle von Besuchen.«
    »Was für dummes Zeug schwatzt du da, du Hoffnung aller Ehefrauen?«
    »Das ist kein dummes Zeug. Das hat man in Prag gelehrt! Der
Sohar
erwähnt es, Hrabanus Maurus schreibt darüber in seinem
De universo
. Die Existenz einer geistigen Parallelwelt beweist auch Duns Scotus. Nach Duns Scotus kann die
materia prima
ohne physische Gestalt existieren. Der nicht vom Geist durchdrungene menschliche Körper ist ausschließlich eine
forma corporeitatis,
eine unvollkommene Gestalt, die . . .«
    »Hör auf, Reinmar!« Scharley schnitt ihm mit einer ungeduldigen Geste das Wort ab. »Bremse deinen Eifer. Sonst verlierst du Zuhörer. Wenigstens einen. Ich gehe, weil ich mich vor dem