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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Schlafengehen noch in den Büschen entleeren will. Das wird, nebenbei bemerkt, eine hundertmal nützlichere Tätigkeit sein, als die, bei der wir hier gerade unsere Zeit vergeuden.«
    »Er ist sich entleeren gegangen«, stellte nach einer Weile der Riese fest. »Duns Scotus dreht sich im Grabe um, genauso wie Hrabanus Maurus und Moses von Leon und alle anderen Kabbalisten. Wenn ihn diese Autoritäten nicht überzeugen können, welche Chancen habe dann ich?«
    »Geringe«, bekannte Reynevan. »Denn um die Wahrheit zu sagen, du hast auch meine Bedenken nicht ganz ausräumen können. Wer bist du? Woher kommst du?«
    »Wer ich bin«, antwortete der Riese ruhig, »kannst du nicht fassen. Auch nicht, woher ich komme. Dass ich mich ausgerechnet hier befinde, kann ich selbst nicht ganz begreifen. Wie sagt doch der Dichter: Ich weiß es nicht, wie ich auf jenen Grund gelangte.
    Io non so ben ridir com’i’v’intrai,
    tant’era pien di sonno a quel punto
    che la verace via abbandonai.
«
    »Für einen Besucher aus der anderen Welt«, Reynevan bezwang seine Verwunderung, »kennst du die Sprache der Menschen ziemlich gut. Und Dantes Poesie.«
    »Ich bin ein Wanderer . . .«, sagte Samson nach einem Moment des Schweigens, »ich bin ein Wanderer, Reinmar. Und Wanderer wissen viel. Das nennt man: die Weisheit der zurückgelegten Wege und aufgesuchten Orte. Mehr kann ich dir nicht sagen. Aber ich werde dir sagen, wer die Schuld am Tode deines Bruders trägt.«
    »Was? Du weißt etwas? Sprich!«
    »Nicht jetzt, ich muss erst noch darüber nachdenken. Ich habe deinen Bericht gehört. Und ich habe einen ganz bestimmten Verdacht.«
    »Rede schon, um Gottes willen!«
    »Das Geheimnis um den Tod deines Bruder steckt in jenem halbverbrannten Dokument, das du aus dem Feuer gezogen hast. Versuche dich zu erinnern, was darauf stand, Fragmente, Sätze, Wörter, Buchstaben, was auch immer. Betrachte es als Gefälligkeit.«
    »Warum willst du mir eine Gefälligkeit erweisen? Was erwartest du dafür?«
    »Dass du dich dankbar erweist. Und auf Scharley Einfluss nimmst.«
    »Inwiefern?«
    »Um rückgängig zu machen, was geschehen ist. Damit ich in meine eigentliche Gestalt und in meine Welt zurückkehren kann, muss das ganze Exorzitium möglichst genau wiederholt werden. Die ganze Prozedur . . .«
    Das aus den Büschen herüberdringende wilde Geheul eines Wolfes unterbrach ihn. Und der furchterregende Schrei des Demeriten.
    Beide liefen sofort los, und trotz seiner Körperfülle war Samson kaum einzuholen. Sie stürzten sich in die dunklen Büsche und orientierten sich an den Schreien und dem Knacken der Zweige. Und dann sahen sie es.
    Scharley kämpfte mit einem Ungeheuer.
    Ein riesiges, menschenähnliches, aber mit schwarzem Fell bewachsenes Monster hatte ihn unvermutet von hinten angefallen und umfasste ihn mit dem schrecklichen Griff seiner zottigen, krallenbewehrten Pranken. Den Hals so stark nach unten gebogen, dass sich sein Kinn in seine Brust bohrte, konnte Scharley nicht mehr schreien, er röchelte nur noch und versuchte, seinen Kopf von dem zahnbewehrten, geifernden Maul fern zu halten. Er kämpfte, aber vergebens, das Monster hielt ihn wie eine Gottesanbeterin, seine eine Schulter konnte er überhaupt nicht, die andere nur wenig bewegen. Trotzdem krümmte Scharley sich wie ein Wiesel, schlug wie blind auf den Wolfsrachen ein, versuchte zu strampeln und zu treten, aber all diese Versuche scheiterten an den bis zu den Knöcheln heruntergelassenen Hosen.
    Reynevan stand wie versteinert da, vor Schreck wie gelähmt und unschlüssig. Samson hingegen warf sich ohne zu zögern in den Kampf. Erneut zeigte sich, dass der Riese die Gewandtheit eines Python und die Grazie eines Tigers besaß. Mit drei Sprüngen war er bei den Kämpfenden, präzise und kraftvoll stieß er dem Ungeheuer die Faust direkt in das Wolfsmaul, packte es bei den zottigen Ohren, riss es von Scharley fort, drehte es herum und versetzte ihm einen Tritt, dass es gegen den Stamm einer Fichte prallte, der Kopf des Wesens schlug mit einem dumpfen Krachen dagegen, dass es Fichtennadeln regnete. Der Schädel eines Menschen wäre bei einem solchen Aufprall zerborsten, aber das Monster sprang sofort wieder auf, heulte wie ein Wolf und warf sich auf Samson. Es griff aber nicht, wie zu erwarten war, mit offenem Maul und mit seinen Klauen an, sondern ließ auf den Riesen einen Hagel von blitzschnellen Schlägen und Tritten niedergehen. Samson gab alle zurück, unglaublich schnell

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