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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Exorzitien, wobei sie bemüht waren, nichts auszulassen. Weder die Zitate aus den Evangelien noch die Gebete zum Erzengel Michael oder den
Liber Picatrix
in der Übersetzung des gelehrten Königs von Kastilien und León. Weder Isidor von Sevilla noch Caesarius von Heisterbach. Weder Hrabanus Maurus noch Michael Psellos.
    Sie vergaßen auch nicht, die Beschwörungen zu wiederholen   – weder die auf Acharon, Ehey und Homus noch die auf Phalego, Ogo, Pophiel und den schrecklichen Semaphor. Sie versuchten alles, und ließen nichts aus, weder »jobsa, hopsa«, noch »hax, pax, max«, noch »hau-hau-hau«. Reynevan strengte sich gewaltig an, um sich wieder an die arabischen oder pseudoarabischen Sätze von Averroes, Avicenna und Abū Bakr Mohammed ibn Zakariah al-Rāzi, der in der westlichen Welt als Rhazes bekannt war, zu erinnern und sie zu wiederholen.
    Alles vergebens.
    Weder ein Zittern noch eine Bewegung der Macht war zu spüren. Nichts ging vor sich, nichts geschah, die Vögel im Wald krächzten und die Pferde, durch das Geschrei der Exorzisten erschreckt, schnaubten. Der seltsame Ankömmling war weiterhin Samson, der Riese der Benediktiner. Selbst wenn man voraussetzte, dass Duns Scotus, Hrabanus Maurus und Moses von Leon und alle anderen Kabbalisten sich in Bezug auf unsichtbare Welten, Parallelexistenzen und Kosmos nicht irrten, so gelang es doch nicht, eine Rückverwandlung vorzunehmen. Und seltsam, am wenigsten enttäuscht davon schien die Hauptperson zu sein.
    »Das bestätigt die Vermutung«, sagte er, »dass bei Beschwörungen die Bedeutung magischer Worte und Laute eher gering ist. Entscheidend ist die spirituelle Einstellung, die Determination der Willensanstrengung. Mir scheint . . .«
    Er brach ab, als warte er auf einen Kommentar oder eine Frage. Er wartete vergebens.
    »Ich sehe keinen anderen Ausweg«, beendete er schließlich seine Überlegungen, »als mich euch anzuschließen. Ich werde euch begleiten müssen. Und darauf hoffen, dass es einem von euch   – oder euch beiden   – gelingt, durch Zufall das zu wiederholen, was ihr in der Klosterkapelle bewirkt habt.«
    Reynevan sah beunruhigt zu Scharley hinüber, aber der Demerit schwieg. Er schwieg lange und rückte nur den Verband aus Wegerichblättern zurecht, den ihm Reynevan auf seinen zerkratzten und zerbissenen Nacken gedrückt hatte.
    »Was soll’s«, sagte er schließlich, »ich stehe in deiner Schuld. Mal abgesehen von dem Zweifel, Gevatter, den du nicht völlig beseitigen konntest, wenn du uns auf unserer Wanderung begleiten willst, so habe ich nichts dagegen. Wer du bist, das soll den Teufel kümmern. Aber du hast bewiesen, dass du unterwegs mehr nützt als störst.«
    Der Riese verbeugte sich schweigend.
    »Es sollte sich gemeinsam also gut und fröhlich wandern lassen«, fuhr der Demerit fort. »Natürlich nur, wenn du davon absiehst, deine außerirdische Herkunft überall öffentlich zu verkünden. Du solltest auch davon absehen, entschuldige meine Offenheit, überhaupt etwas zu verkünden. Deine Äußerungen widersprechen nämlich deinem Aussehen gewaltig.«
    Der Riese verbeugte sich abermals.
    »Wer du bist, ich sage es noch einmal, ist mir letztlich egal, ich erwarte weder Beichte noch Bekenntnisse. Aber ich wüsste gerne, bei welchem Namen ich dich nennen soll.«
    »Warum«, zitierte Reynevan leise, der sich an die drei Waldhexen und ihre Weissagungen erinnerte, »fragst du nach meinem Namen: Er ist ein Geheimnis.«
    »In der Tat«, der Riese lächelte, »
nomen meum, quod est mirabile . . .
Die Übereinstimmung ist interessant und keineswegs zufällig. Das ist aus dem Buch der Richter. Die Antwort, die Manoch auf seine Frage erhielt, der Vater des Samson. Bleiben wir also bei Samson, einem Namen, so gut wie jeder andere. Was den Familiennamen anbelangt, Scharley, den kann ich deinem Erfindungsreichtum und deiner Phantasie überlassen . . . Obwohl ich zugeben muss, dass mir allein bei dem Gedanken an Honig schlecht wird . . . Wenn ich an das Erwachen in der Kapelle denke, mit dem klebrigen Topf in der Hand . . . Aber ich bin einverstanden. Samson Honig, zu euren Diensten.«

Vierzehntes Kapitel
    welches Ereignisse schildert, die sich am selben Abend wie im vorhergehenden Kapitel zutragen, aber an einem anderen Ort: in einer großen Stadt, die, am Krähenflug gemessen, etwa acht Meilen in nordöstlicher Richtung entfernt liegt. Ein Blick auf die Landkarte Schlesiens, den der Autor dem Leser lebhaft empfiehlt, zeigt, um welche

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