Narrenturm - Roman
Stadt es sich handelt.
D er auf dem Glockenturm der Kirche sitzende Mauerläufer verscheuchte die Dohlen; die schwarzen Vögel flogen auf, krächzten laut und segelten nach unten auf die Dächer der Häuser, wie Rußteilchen nach einem Brand. Die Dohlen waren in der Überzahl und ließen sich nicht so leicht vom Turm vertreiben. Vor einem gewöhnlichen Mauerläufer hätten sie niemals kapituliert. Aber dass dies kein gewöhnlicher Mauerläufer war, hatten die Dohlen sofort erkannt.
Ein heftiger Wind fegte über Breslau, er trieb dunkle Wolken aus Richtung Lohe vor sich her, und das graue Wasser der Oder kräuselte sich in den Böen, die Weiden auf der Malzinsel wiegten ihre Zweige, die Schilfgürtel zwischen den Armen des Altwassers wogten hin und her. Der Mauerläufer spreizte die Flügel, schleuderte den über den Dächern kreisenden Dohlen seinen krächzenden Kampfschrei entgegen, erhob sich in die Lüfte, umkreiste den Turm und setzte sich auf den Sims. Er zwängte sich durch die Fensteröffnung, stürzte sich in die dunkle Öffnung des Glockenturms, flog hinab und beschrieb eine halsbrecherische Spirale über der hölzernen Wendeltreppe. Er landete, setzte sich auf die Fliesen im Kirchenschiff, schlug mit den Flügeln, sträubte das Gefieder und verwandelte sichauf der Stelle in einen schwarzhaarigen, schwarz gekleideten Mann.
Vom Altar her näherte sich, sandalenklappernd und beständig vor sich hin murmelnd, der Ostiarius, ein Greis mit bleicher, pergamentartiger Haut. Der Mauerläufer richtete sich stolz auf. Der Ostiarius wurde bei seinem Anblick noch blasser, bekreuzigte sich, neigte den Kopf tief nach vorn und zog sich schnell in die Sakristei zurück. Das Klappern der Sandalen hatte jedoch denjenigen bereits alarmiert, den der Mauerläufer treffen wollte. Unter den Arkaden vor der Kapelle tauchte geräuschlos ein hoch gewachsener Mann mit einem kurzen Spitzbart auf, in einen Mantel mit Kreuz und rotem Stern gehüllt. Die Breslauer St.-Matthias-Kirche gehörte dem Hospitalorden
cum Cruce et Stella,
sein Hospital befand sich unmittelbar neben der Kirche.
»Adsumus«
, grüßte der Mauerläufer halblaut.
»Adsumus«,
erwiderte der Kreuzritter mit dem Stern leise und faltete die Hände. »Im Namen des Herrn.«
»Im Namen des Herrn.« Der Mauerläufer bewegte unwillkürlich Kopf und Schultern nach Vogelart. »Im Namen des Herrn, Bruder. Wie stehen die Dinge?«
»Wir sind in ständiger Bereitschaft.« Der Spitalbruder sprach weiterhin leise. »Die Leute kommen andauernd. Wir notieren eifrig alles, was sie melden.«
»Die Inquisition?«
»Sie ahnt nichts. Sie haben eigene neue Kontaktstellen in vier Kirchen eingerichtet: in St. Adalbert, St. Vinzenz, St. Lazarus und bei der Jungfrau Maria auf dem Sande, sie haben keine Ahnung, dass unsere Stelle zusätzlich arbeitet. An denselben Tagen und zur selben Zeit, dienstags, donnerstags und sonntags um . . .«
»Ich weiß, wann«, unterbrach ihn der Mauerläufer schroff. »Ich bin gerade zur rechten Zeit gekommen. Zeig mir den Beichtstuhl, Bruder. Ich werde dort sitzen, zuhören und erfahren, was im Volke vor sich geht.«
Es war noch nicht so viel Zeit vergangen, wie man für drei Vaterunser braucht, als auch schon der erste Kunde vor dem Gitter des Beichtstuhls kniete.
». . . vor der Obrigkeit hat Bruder Titus keine Achtung, er achtet niemanden . . . Einmal hat er, Gott vergib ihm, den Prior selbst angeschrien, dass der die Messe nicht in nüchternem Zustand lese, und dabei hatte der Prior nur ein bisschen was getrunken, was ist denn das schon, ein Quart für drei. Aber Bruder Titus hat keine Achtung . . . Da hat der Prior befohlen, ihm genau auf die Finger zu sehen . . . Und heimlich, Gott vergib ihm, seine Zelle zu durchsuchen . . . Und da sind Bücher und Schriften ans Licht gekommen, die er unter seinem Bett verwahrt hatte. Man kann es gar nicht glauben . . . Der
Trialogus
von Wyclif . . .
De ecclesia
von Hus . . . Schriften der Lollarden und Waldenser . . . Dazu noch die
Postilla apocalipsim,
die Petrus Olivi geschrieben hat, dieser verdammte Häretiker, der Apostel der Begarden und Joachimiten, wer so was hat und liest, ist bald selbst ein heimlicher Begarde. Und da die Obrigkeit befohlen hat, Begarden anzuzeigen . . . zeige ich ihn also an . . . Gott vergib . . .«
»Ich zeige untertänigst an, dass Gaston de Vaudenay, der Troubadour, der sich die Gnade des Herzogs von Glogau erschlichen hat, ein Säufer, ein Hurenbock, ein Prahlhans, ein
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