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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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omnes«,
murmelte Reynevan vor sich hin. »
Annus cyclicus. Voluptas?
Ja, bestimmt
voluptas
.
Voluptas papillae. De sanctimonia et... Expeditione hominis.
Samson!«
    »Ich höre?«
    »
Expeditione hominis.
Oder
positione hominis
. Auf dem halbverbrannten Papier. Dem aus Powojowitz. Kannst du da einen Zusammenhang erkennen?«
    »
Voluptas papillae . . .
O Reinmar, Reinmar!«
    »Ich habe gefragt, ob du einen Zusammenhang erkennen kannst!«
    »Nein. Leider. Aber ich denke die ganze Zeit darüber nach.«
    Obwohl Samson Honig, anders als versprochen, weniger nachzudenken, sondern vielmehr im Sattel seines mausgrauen Wallachs vor sich hin zu dösen schien, eines Pferdes, das Justus Schottel, der Schweidnitzer Meister des Holzschnittes, besorgt hatte, weil ein solches auf der von Scharley verfertigten Liste der notwendigen Dinge stand, enthielt sich Reynevan jeglichen Kommentars.
    Er seufzte laut. Die Vervollständigung der Ausrüstung hatte länger gedauert als vorgesehen. Statt drei hatten sie geschlagene vier Tage in Schweidnitz zugebracht. Der Demerit und Samson hatten sich nicht darüber beklagt, ja, sie waren sogar hocherfreut gewesen, die berühmten Schweidnitzer Keller besuchenund die Güte des diesjährigen Märzenbieres eingehend prüfen zu können. Reynevan hingegen, dem man wegen der Geheimorganisation abgeraten hatte, in den Schenken einzukehren, hatte sich in der Werkstatt in der Gesellschaft des humorlosen Simon Unger gelangweilt, war aufgebracht, ungeduldig, verliebt und voller Sehnsucht gewesen, hatte eifrig die Tage seiner Trennung von Adele gezählt   – und um nichts in der Welt hatten es weniger als achtundzwanzig werden wollen. Achtundzwanzig Tage! Fast ein ganzer Monat! Er hatte überlegt, ob und wie Adele in der Lage gewesen war, dies zu ertragen. Am Morgen des fünften Tages hatte das Warten endlich ein Ende gehabt. Nachdem sie sich von den Holzschnitzern verabschiedet hatten, verließen unsere drei Reisenden Schweidnitz und reihten sich gleich hinter dem Unteren Tor in die lange Kolonne von Reisenden ein, die zu Pferde und zu Fuß unterwegs waren, schwer beladen und bepackt, Rinder und Schafe vor sich hertreibend, Karren ziehend, Schubkarren schiebend und auf Vehikeln von unterschiedlichster Bauweise und Aussehen umherfahrend. Die Karawane umwehten Gestank und Unternehmergeist.
    Zusätzlich zu den auf Scharleys Liste aufgeführten Ausrüstungsgegenständen hatte Justus Schottel ihnen einen großen, chaotisch bunt zusammengewürfelten Haufen von Kleidungsstücken besorgt, so dass alle drei Gelegenheit hatten, sich umzuziehen. Scharley hatte sofort zugegriffen und präsentierte sich jetzt würdevoll, ja schon fast kriegerisch, in einem
haqueton
aus Pikée, der die rostigen, aber Respekt heischenden Abdrücke eines Panzers trug. Die seriöse Kleidung hatte Scharley wie auf magische Weise verwandelt   – mit dem Narrengewand hatte der Demerit auch seine Narrenpossen und Kraftausdrücke abgelegt. Jetzt saß er aufrecht auf seinem prächtigen Ross, eine Hand in die Hüfte gestemmt, und betrachtete mit martialischem Gesichtsausdruck und mit einer Präsenz, die, wenn nicht der eines Gawain, dann doch zumindest der eines Gareth gleichkam, die vorbeiziehenden Kaufleute.
    Auch Samson Honig hatte sein Äußeres verändert, obwohl in dem von Schottel zusammengetragenen Kleiderberg nicht leicht etwas zu finden war, das dem Riesen passte. Schließlich gelang es, die sackartige Mönchskutte durch eine lose, kurze Journade und eine Kapuze mit modisch gezacktem Saum zu ersetzen. Das war eine so übliche Bekleidung, dass sich Samson   – soweit das möglich war   – nicht mehr allzu sehr von der Masse abhob. Einem Betrachter würde nun in der Kolonne der Reisenden nur ein Edelmann, begleitet von einem Diener und einem Scholaren, auffallen. Eine Hoffnung, die zumindest Reynevan hegte. Er vertraute auch darauf, dass Kyrieleison und seine Bande, selbst wenn sie mittlerweile erfahren haben sollten, dass Scharley ihn begleitete, nach zwei und nicht nach drei Reisenden fragen würden.
    Reynevan selbst hatte seine heruntergekommene und nichts weniger als saubere Kleidung weggeworfen und aus Schottels Kleiderhaufen enge Hosen und ein Leinenwams mit modisch wattierter Vorderseite herausgezogen, das seiner Gestalt ein leicht vogelartiges Aussehen verlieh. Das Ganze wurde durch ein Barett ergänzt, wie Scholaren es zu tragen pflegten   – etwa Johann von Gutenberg, den sie erst vor kurzem kennen gelernt hatten.

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