Narrenturm - Roman
übliche Methode, um Entlaufene zu fangen.«
»Was für Vorschläge hast du also?«
»Meine Vorschläge«, Scharley breitete die Arme aus, »werden von der Geographie bestimmt. Dieses große, wolkenverhangene Etwas im Osten ist, wie du weißt, die Lohe. Was sich dort erhebt, ist das Eulengebirge, das dort ist ein Berg, den man die Hohe Eule nennt. An der Hohen Eule gibt es zwei Pässe, den Waltersdorfer Pass und den am Hausdorfer Kreuz, dort entlang könnten wir rasch nach Böhmen gelangen, ins Braunauische.«
»Böhmen ist riskant«, hast du behauptet.
»Im Augenblick«, entgegnete Scharley ungerührt, »bist du unser größtes Risiko. Und die Verfolger, die dir auf den Fersen sind. Ich gestehe, am liebsten würde ich jetzt nach Böhmen ziehen. Von Braunau hinüber nach Glatz, von Glatz nach Mähren und nach Ungarn. Aber du gibst vermutlich Münsterberg nicht auf.«
»Da vermutest du richtig.«
»Was soll’s, dann müssen wir eben auf die Sicherheit verzichten, die uns die Pässe bieten könnten.«
»Das wäre eine sehr trügerische Sicherheit«, warf überraschend Samson Honig ein, »und eine, die schwer zu bekommen ist.«
»Das stimmt«, gab der Demerit gelassen zu. »Die Gegend gehört nicht zu den sichersten. Also gut, lasst uns in Richtung Frankenstein ziehen. Aber nicht dem Weg folgend, sondern am Fuß der Berge, am Waldrand, die Schlesische Schneise entlang. Wir machen einen Umweg, werden ein Stück weit durch die Wildnis ziehen, aber was bleibt uns anderes übrig?«
»Auf dem Weg reiten«, brauste Reynevan auf. »Den Sterz’ hinterher! Sie einholen, kriegen und . . .«
»Du glaubst doch wohl selbst nicht, was du sagst, Junge!«, unterbrach ihn Scharley grob. »Du willst doch denen nicht in die Hände fallen. Das willst du ganz gewiss nicht.«
So ritten sie dahin, anfangs quer durch Buchen- und Eichenwald, dann auf Waldwegen und schließlich auf der Straße, die sich durch die Hügel wand. Scharley und Samson unterhieltensich leise. Reynevan schwieg und dachte über die Mahnung des Demeriten nach.
Scharley hatte wieder einmal bewiesen, dass, wenn er schon keine Gedanken lesen, sie jedoch, alle äußeren Bedingungen miteinbeziehend, ziemlich gut erraten konnte. Der Anblick der Sterz’ hatte bei Reynevan in der Tat sofort Wut und eine wilde Rachsucht hervorgerufen, er war bereit, sogleich ihren Spuren zu folgen, abzuwarten, bis die Nacht anbrach, sich anzuschleichen und den Schlafenden die Kehle durchzuschneiden. Aber nicht allein die Vernunft hielt ihn davon ab, sondern auch eine lähmende Angst. Einige Male schreckte er, mit kaltem Schweiß bedeckt, aus einem Traum auf, in dem man ihn gefangen und in das Verlies des Henkers in Sterzendorf verschleppt hatte; was die dort befindlichen Folterwerkzeuge anlangte, war der Traum von erschreckender Deutlichkeit. Sobald Reynevan an sie dachte, wurde ihm abwechselnd heiß und kalt. Auch jetzt liefen ihm Schauer über den Rücken, und das Herz blieb ihm fast stehen, wenn am Wegesrand dunkle Silhouetten auftauchten, die sich erst bei genauerem Hinsehen nicht als die Sterz’, sondern als Wacholderbüsche erwiesen.
Dies alles wurde noch schlimmer, als Scharley und Samson das Thema wechselten und sich in literaturgeschichtlichen Betrachtungen ergingen.
»Als der Troubadour Guillaume de Cabestaing die Ehefrau des Herrn de Château-Roussillon verführt hatte«, erzählte Scharley und bedachte Reynevan mit einem vielsagenden Blick, »befahl jener, den Dichter zu töten, weidete ihn aus, hieß den Koch, das Herz zu braten, und gab es der untreuen Gattin zu essen. Daraufhin hat sie sich vom Turm gestürzt.«
»So berichtet es wenigstens die Legende«, antwortete Samson Honig mit einer Belesenheit, die angesichts seines kretinhaften Gesichtsausdruckes wirklich verblüffend war. »Den Herren Troubadouren darf man nicht alles glauben, ihre Strophen über Liebeserfolge bei verheirateten Damen spiegeln häufiger Lust und Träume wider, seltener wirkliche Ereignisse. EinBeispiel dafür ist wohl Marcabru, den, trotz eindeutiger Anspielungen, ganz bestimmt nichts mit Eleonore von Aquitanien verband. Übertrieben sind meiner Meinung nach auch die Romanzen, die Bernart de Ventadorn mit Frau Alaise de Montpellier und Raoul de Coucy mit Frau Gabrielle de Fayel miteinander hatten. Auch Thibaut de Champagne erweckt Zweifel, wenn er sich der Gunst Blancas von Kastilien rühmt. Und auch Arnaut de Maruelh, nach eigenen Worten der Geliebte von Adelaide de Béziers, der
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