Narrenturm - Roman
mit Hilfe der Gießkunst so viel Abgüsse herstellen, wie ich Buchstaben, also Lettern, haben will. Solche hier, seht her. Die Lettern, derenKlötzchen ideal zueinander passen, setze ich . . . in die entsprechende Ordnung . . . hier auf diesen Rahmen. Dieser dient mir zu Demonstrationszwecken und ist klein, aber normalerweise, schaut bitte hier, hat der Rahmen die Größe der Seite des künftigen Buches. Wie Ihr sehen könnt, lege ich die Zeilenlänge fest. Ich setze Keile ein, um einen gleichmäßigen Rand zu erhalten. Ich drücke den Rahmen mit einem eisernen Bügel zusammen, damit mir nicht alles auseinander fällt . . . Ich färbe ihn mit Tusche ein, dieselbe, die auch Ihr verwendet . . . Darf ich Euch bitten, mir zu helfen, Herr Unger? Ich lege ihn unter die Presse . . . Darauf einen Bogen Papier . . . Herr Unger, die Schraube . . . Na bitte, fertig.«
Auf dem Bogen, genau in der Mitte, stand deutlich und fein säuberlich gedruckt:
IUBILATE DEO OMNIS TERRA
PSALMUM DICITE NOMINI EUIS
»Der fünfundsechzigste Psalm!« Justus Schottel klatschte in die Hände. »Wie lebendig!«
»Ich bin beeindruckt«, bekannte Scharley. »Sehr beeindruckt, Herr Gutenberg. Ich wäre noch mehr beeindruckt, wenn es ›dicite nomini eius‹ hieße und nicht ›euis‹.«
»Ha-ha!« Der Baccalaureus strahlte wie ein Student, dem ein toller Streich gelungen ist. »Das habe ich absichtlich gemacht! Absichtlich habe ich beim Zusammensetzen einen Fehler gemacht, einen sogenannten Setzfehler. Um zu zeigen – seht nur her –, wie leicht man eine Korrektur durchführen kann. Den falsch gesetzten Buchstaben nehme ich heraus . . . so . . . setze ihn an die richtige Stelle . . . Die Schraube, Herr Unger . . . Da ist der richtige Text.«
»Bravo«,
rief Samson Honig,
»bravo, bravissimo.
Das ist wirklich beeindruckend.«
Nicht nur Gutenberg, sondern auch Schottel und Unger standen mit offenen Mündern da. Sie wären wohl weniger verwundertgewesen, wenn die Katze, die Statue des heiligen Lukas auf dem Hof oder der gemalte Sebastian mit dem großen Pimmel zu sprechen begonnen hätten.
»Der Schein trügt manchmal«, erklärte Scharley und räusperte sich. »Da seid ihr nicht die Ersten.«
»Und sicher nicht die Letzten«, fügte Reynevan hinzu.
»Verzeiht«, der Riese streckte die Hände aus, »aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen . . . Wenn man schon Zeuge einer Erfindung ist, die das Antlitz einer Epoche verändern wird . . .«
»Ha!« Gutenberg strahlte, wie jeder Künstler stolz auf jedes Lob, auch wenn dieses aus dem Munde eines bis zum Deckenbalken emporragenden Kraftpakets mit dem Gesicht eines Idioten kam. »So wird es sein! Und nicht anders! Denn geruht Euch einmal vorzustellen, werte Herren, gelehrte Bücher in zigfachen, und irgendwann, so seltsam das heute auch klingen mag, in Hunderten von Exemplaren! Ohne das mühselige und Jahrhunderte dauernde handschriftliche Kopieren! Die Weisheit der Menschheit gedruckt und zugänglich! Ja, ja! Und wenn Ihr, ehrenwerte Herren, meine Erfindung unterstützt, dann garantiere ich Euch, dass Eure Stadt, das heilige Schweidnitz, für alle Zeiten als der Ort genannt werden wird, an dem die Fackel der Aufklärung zu leuchten begonnen hat. Als der Ort, von dem aus das Licht in die ganze Welt gedrungen ist.«
»In der Tat«, äußerte nach einer Weile Samson Honig mit seiner sanften, ruhigen Stimme. »Ich sehe das schon vor meinem geistigen Auge. Massenhaft Papier, eng bedruckt mit Lettern. Jedes Papier in Hunderten, und irgendwann, so seltsam das heute auch klingen mag, vielleicht in Tausenden von Exemplaren. All das immer wieder vervielfältigt und überall zugänglich. Lügen, Geschwätz, Verleumdungen, Schmähschriften, Denunziationen, schwarze Propaganda und Demagogie, die dem Pöbel schmeichelt. Jede Gemeinheit wird geadelt, jede Niedertracht wird offiziell, jede Lüge zur Wahrheit. Jede Schweinerei zur Tugend, jedes geschmähte Extrem zur fortschrittlichenRevolution, jede billige Losung zur Weisheit, jeder Tand zum Kleinod. Jeder Unsinn wird anerkannt, jede Torheit gekrönt. Denn es ist doch alles gedruckt. Es steht auf dem Papier, also hat es Wirkung, also ist es bindend. Es wird einfach sein, damit zu beginnen, Herr Gutenberg. Und es umzusetzen. Aber es aufzuhalten?«
»Ich zweifle daran, dass eine solche Notwendigkeit bestehen wird«, warf Scharley scheinbar ernst ein. »Da ich ein größerer Realist bin als du, Samson, sage ich dieser Erfindung keine so
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