Narrenturm - Roman
sie sich nicht selbst helfen. Sie lassen sich bestimmt nicht von der Münsterberger Stadtwache fangen, die, wie alle Ordnungskräfte, für ihren Betätigungsdrang, ihren Elan, ihre rasche Initiative, ihren Mut und ihre Intelligenz bekannt ist. Ich sage es Euch noch einmal, denkt nicht an eine Rückkehr. Euren Gefährten geschieht in Münsterberg nichts, aber für Euch bedeutet die Stadt den Untergang. Reitet mit uns nach Wartha, Junker Reinmar. Von dort aus bringe ich Euch persönlich nach Böhmen. Ihr müsstnicht so die Augen aufreißen! Euer Bruder stand mir als Kommilitone sehr nahe.«
»Sehr nahe?«
»Ihr würdet Euch wundern, wie sehr. Ihr würdet Euch wundern, wie viel uns verbunden hat.«
»Mich wundert überhaupt nichts mehr.«
»Das erscheint Euch nur so.«
»Wenn du tatsächlich ein Freund von Peterlin warst«, sagte Reynevan nach kurzem Zögern, »dann wird dich die Nachricht freuen, dass seine Mörder ihre gerechte Strafe bekommen haben. Weder Kunz Aulock noch einer von seinen Kumpanen sind mehr am Leben.«
»Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht«, meinte Tybald Raabe, das bekannte Sprichwort anführend. »Sind sie etwa durch Eure Hand gefallen, Junker Reinmar?«
»Unwichtig, durch wessen Hand.« Reynevan errötete leicht, weil er in der Stimme des Goliarden einen spöttischen Unterton vernommen hatte. »Das Wichtigste ist, dass sie ins Gras beißen mussten. Und Peterlin ist gerächt.«
Tybald Raabe schwieg lange und beobachtete einen Raben, der über den Wald flog. »Ich bin weit davon entfernt, antwortete er schließlich, Mitleid mit Kyrieleison zu empfinden oder Storks Tod zu beweinen. Sollen sie doch in der Hölle schmoren, sie haben es verdient. Aber nicht sie haben Herrn Peter ermordet. Nicht sie.«
»Wer . . .«, Reynevan verschluckte sich. »Wer dann?«
»Das möchte so mancher gerne wissen.«
»Die Sterz’? Oder jemand, den sie aufgehetzt haben? Wer? Rede!«
»Leiser, Junker, leiser. Seid vorsichtig. Dies ist nichts für fremde Ohren. Ich kann Euch nichts weiter sagen als das, was ich selbst gehört habe . . .«
»Was hast du gehört?«
»Dass . . . dunkle Mächte in die Sache verwickelt sind.«
Reynevan schwieg eine Zeit lang.
»Dunkle Mächte«, wiederholte er dann spöttisch. »Ja, davon habe ich auch schon gehört. Das haben Peterlins Konkurrenten erzählt. Dass er nur deshalb Erfolg bei seinen Geschäften gehabt hat, weil ihm der Teufel dabei half, als Gegenleistung für seine verkaufte Seele. Und dass ihn der Teufel eines Tages in die Hölle entführt hat. Dunkle und satanische Mächte, wie wahr. Wenn ich nur daran denke, dass ich dich, Herrn Tybald Raabe, für einen ernsthaften und vernünftigen Mann gehalten habe.«
»Ich bin ja schon still.« Der Goliarde zuckte mit den Schultern und wandte den Kopf ab. »Ich werde kein einziges Wort mehr sagen, Junker. Denn ich fürchte, ich müsste Euch nur noch mehr enttäuschen.«
Der kleine Tross hatte unter einer riesigen Eiche angehalten, um zu rasten, einem uralten Baum, der schon auf viele Jahrhunderte gesehen hatte. In ihrem Wipfel jagten sich fröhlich die Eichhörnchen, die keinen Wert auf Ernst und Würde legten. Man hatte die Pferde des Wagens mit der schwarz geteerten Plane abgespannt, die Reisegesellschaft lagerte unter dem Astwerk des Baumes. Und nun war man, wie Reynevan erwartet hatte, in ein politisches Streitgespräch verwickelt, das sich, wie er ebenfalls erwartet hatte, um die aus Böhmen heraufziehende Gefahr der hussitischen Häresie drehte und um den täglich erwarteten großen Kreuzzug, der jener Häresie den Garaus machen sollte. Aber obwohl das Thema leicht zu erraten gewesen war, verlief die Diskussion anders, als dies üblich war.
»Der Krieg«, bekannte einer der Franziskaner unvermittelt, wobei er seinen Kopf schüttelte, weil ein Eichhörnchen eine Eichel auf seine Tonsur hatte fallen lassen, »der Krieg ist das Böse. Denn es steht geschrieben: Du sollst nicht töten.«
»Und um sich zu verteidigen?«, fragte der Steuereinnehmer. »Um seinen Besitz zu verteidigen?«
»Und den Glauben?«
»Und die Ehre?« Hartwig von Stietencron hob den Kopf.»Welch ein Geschwätz! Die Ehre muss verteidigt, eine Beleidigung mit Blut gesühnt werden!«
»Jesus hat sich in Gethsemane nicht verteidigt«, entgegnete der Franziskaner leise. »Und Petrus hat er befohlen, das Schwert einzustecken. War er deswegen ehrlos?«
»Und was schreibt Augustinus, der
doctor Ecclesiae,
in seinem
De civitate
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