Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv

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die Sache der Armen zu beugen und Gewalt zu üben am Recht der Elenden in meinem Volk, dass die Witwen ihr Raub und die Waisen ihre Beute werden!«
    »Das sind«, der Steuereinnehmer warf ihm einen schiefen Blick zu, »harte Worte, sehr harte Wort, Herr Raabe. Man kann sie auch auf Euch selbst anwenden, denn auch Ihr seid nicht ohne Sünde. Ihr sprecht wie ein Politiker, um nicht zu sagen wie ein Priester. Anstatt Euch, wie es Euch ziemt, der Laute, den Versen und den Gesängen zu widmen.«
    »Verse und Gesänge, sagt Ihr?« Tybald Raabe nahm die Laute vom Sattel. »Ganz wie es Euch beliebt!«
    Des Kaisers Pfaffen,
    vom Antichrist erschaffen.
    Von Christus nicht stammt ihre Macht,
    die hat der Antichrist erdacht,
    auf Kaisers Liste ausgemacht.
    »Die Pest auch!«, knurrte der Steuereinnehmer und sah sich um. »Da ist es mir doch lieber, wenn Ihr sprecht.«
    Christ, erhöre unser Flehen,
    lass Kapläne uns erstehen,
    die die Wahrheit spüren,
    die den Antichrist verdammen,
    und uns zu Dir führen.

    Gleich, was eure Zunge sei,
    macht von falscher Red’ euch frei,
    und gewinnet Klarheit!
    Zweifelt ihr am Bibelwort,
    Wyclif spricht die Wahrheit!
    Spricht die Wahrheit, wiederholte unwillkürlich in Gedanken der aufmerksam zuhörende Reynevan. Spricht die Wahrheit. Wo habe ich diese Worte schon gehört?
    »Ihr werdet durch solche Lieder noch ins Unglück geraten, Herr Raabe«, sagte indessen der Steuereinnehmer mit säuerlicher Miene. »Und über Euch, meine Brüder, muss ich mich wundern, dass Ihr derlei so ruhig anhört.«
    »In Liedern«, sagte einer der Franziskaner lächelnd, »verbirgt sich oft die Wahrheit. Und die Wahrheit ist nun mal die Wahrheit, die muss man nicht verdrehen, sondern ertragen, wenn sie auch wehtut. Und Wyclif? Nun, er hat geirrt, aber
libri sunt legendi, non comburendi.
«
    »Wyclif, der Herr sei ihm gnädig«, fügte ein Zweiter hinzu, »war der Erste nicht. Darüber, was in dem Lied gesagt wird, hat schon unser großer Bruder und Patron, der kleine Arme von Assisi, geklagt. Man soll nicht die Augen davor verschließen und auch nicht den Kopf abwenden: Böses geschieht. Die Geistlichen entfernen sich von Gott und blicken begehrlich auf weltliche Dinge. Statt bescheiden zu leben, sind sie oft reicher als Fürsten und andere Adelige.«
    »Doch Jesus sprach, wie das Evangelium bezeugt«, setzte der Dritte leise hinzu, »
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«
    »Und Jesu Worte«, warf der dicke Soldat, sich räuspernd, ein, »darf keiner verbessern oder abändern, auch der Papst nicht. Wenn er das tut, dann ist er kein Papst, sondern, wie es im Lied heißt: der leibhaftige Antichrist.«
    »Genauso«, rief der älteste Pilger und fasste sich an seine blaue Nase, »genauso ist es wohl!«
    »Bei Gott«, empörte sich der Steuereinnehmer, »schweigt! Da bin ich ja in eine schöne Gesellschaft geraten! Das ist doch nichts anderes als waldensisches und begardisches Geschwätz. Das ist Sünde!«
    »Euch wird vergeben werden«, lachte der Goliarde und stimmte seine Laute. »Ihr treibt doch Steuern für einen heiligenZweck ein. Die Heiligen Adauctus und Matthäus werden sich für Euch verwenden.«
    »Habt Ihr gehört, Herr Reinmar«, sagte der Steuereinnehmer mit sichtlichem Bedauern, »wie spöttisch er das gesagt hat? Gewiss, es ist jedermann bekannt, dass die Steuern für fromme Zwecke erhoben werden, dass sie dem Allgemeinwohl dienen. Bezahlen muss man, so will es die Ordnung! Das wissen alle. Was aber folgt daraus? Niemand liebt die Steuereinnehmer. Es kommt vor, dass die Leute, wenn sie sehen, dass ich komme, in die Wälder fliehen. Manchmal hetzen sie die Hunde auf mich. Werfen mir Grobheiten an den Kopf. Und diejenigen, die bezahlen, behandeln mich, als hätte ich die Pest.«
    »Ein schweres Los!« Der Goliarde nickte und zwinkerte Reynevan zu. »Habt Ihr Euch nie gewünscht, dies zu ändern? Bei so vielen Missachtungen?«

    Tybald Raabe war, wie sich zeigte, scharfsinnig und von rascher Auffassungsgabe.
    »Sitzt nicht so unruhig im Sattel«, sagte er leise zu Reynevan, nachdem er sein Pferd nahe an ihn herangebracht hatte. »Seht Euch nicht mehr nach Münsterberg um. Ihr müsst Münsterberg meiden.«
    »Meine Freunde . . .«
    »Ich habe gehört, was der Steuereinnehmer gesagt hat«, unterbrach ihn der Goliarde. »Seinen Freunden zu Hilfe zu eilen, ist zwar äußerst löblich, aber Eure Freunde, erlaubt, dass ich das sage, sehen nicht so aus, als könnten