Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
Heringstransporte zurückgehalten wurden. Aber das genügte ihm noch nicht, so sehr war er ergrimmt. Rings um Hartenau brannten die Dörfer, die Kirchen und die Weiler, selbst in den Dörfern um Zittau sah man Feuersbrünste. Drei Tage lang brandschatzte und raubte Herr Boczek. Für die Lausitzer hat sich der Heringskrieg nicht ausgezahlt, o nein! Ich wünsche Schlesien nichts dergleichen.«
    »Es kommt, wie Gott es gibt«, sagte der Franziskaner nachdenklich.
    Lange Zeit sprach niemand mehr.
     
    Das Wetter wurde immer schlechter, die vom Wind gejagten Wolken verdüsterten sich drohend, der Wald rauschte, und erste Regentropfen fielen auf Kapuzen und Mäntel, die Kruppen der Pferde und die schwarze Plane des Wagens. Reynevan brachte sein Pferd an das von Tybald Raabe heran, sie ritten nebeneinander her.
    »Eine hübsche Geschichte«, begann er leise zu sprechen, »die mit den Heringen. Und die Verse über Wyclif sind auch nichtübel. Ich wundere mich nur, dass du das alles nicht auch noch mit der Verlesung der Vier Prager Artikel abgerundet hast wie in Schönau. Ich frage mich, ob der Steuereinnehmer deine Ansichten kennt.«
    »Er wird sie kennen lernen, wenn die Zeit gekommen ist«, erwiderte der Goliarde leise. »Denn, wie der Prediger Salomon sagt, es gibt eine Zeit zu schweigen und eine Zeit zu reden. Eine Zeit des Suchens und eine Zeit des Verlierens, eine Zeit des Bewahrens und eine Zeit des Verwerfens, eine Zeit der Liebe und eine Zeit des Hasses, eine Zeit des Krieges und eine Zeit des Friedens. Es gibt für alles eine Zeit.«
    »Diesmal bin ich voll und ganz deiner Meinung.«
     
    Am Kreuzweg stand inmitten von hellen Birken ein steinernes Sühnekreuz, eines der zahlreichen Zeichen von Schuld und Sühne in Schlesien. Von ihm weg führte geradeaus ein heller Sandweg, in alle anderen Richtungen gingen dunkle Waldwege ab. Der Wind zerrte an den Kronen der Bäume und fegte durch ihre dürren Blätter. Ein dünner Regen schnitt immer empfindlicher ins Gesicht.
    »Es gibt für alles eine Zeit«, sagte Reynevan zu Tybald Raabe. »So spricht der Prediger Salomo. Und so ist nun die Zeit des Abschieds gekommen. Ich kehre nach Münsterberg zurück. Sag nichts.«
    Der Steuereinnehmer betrachtete sie. Ebenso die Minderbrüder, die Pilger, die Soldaten, Hartwig Stietencron und seine Tochter.
    »Ich kann meine Freunde, die womöglich in Not sind, nicht im Stich lassen«, fuhr er fort. »Das ziemt sich nicht. Freundschaft ist eine großartige und schöne Sache.«
    »Habe ich denn etwas gesagt?«
    »Ich reite nun los.«
    »Reitet.« Der Goliarde nickte. »Solltet Ihr aber Eure Pläne ändern, Junker, und Euch für den Weg nach Wartha und nach Böhmen entscheiden . . . Ihr holt uns leicht wieder ein. Wirwerden langsam weiterziehen. Und hinterm Steubernhau planen wir eine längere Rast. Steubernhau, merkt Ihr es Euch?«
    »Ich werde es mir merken.«
    Der Abschied war kurz. Nichtssagend. Die üblichen Wünsche, Glück und Gottes
auxilium.
Reynevan wendete das Pferd. In seinem Gedächtnis haften blieb der Blick, den Stietencrons Tochter ihm zum Abschied zuwarf. Der Blick eines Kälbchens, sanft, ein Blick aus feuchten und sehnsuchtsvollen Augen unter gerupften Brauen.
    Ein hässliches Ding, dachte er, während er durch Regen und Wind galoppierte. Missgestaltet wie eine Vogelscheuche. Aber einen echten Mann bemerkt und erkennt sie sofort.
    Das Pferd hatte wohl eine Stadie zurückgelegt, bevor Reynevan die Sache überdacht hatte und merkte, wie dumm er doch war.
     
    Als er in der Nähe der riesigen Eiche auf sie stieß, wunderte er sich noch nicht einmal übermäßig.
    »Ho! Ho!«, schrie Scharley und zügelte das tänzelnde Pferd. »Alle guten Geister! Das ist doch unser Reynevan!« Sie sprangen aus ihren Sätteln, und kurz darauf stöhnte Reynevan unter der herzlichen, aber Rippenbrüche versprechenden Umarmung Samson Honigs.
    »Na bitte, bitte, bitte«, rief Scharley mit belegter Stimme. »Er ist den Münsterberger Häschern entkommen, er ist Herrn Biberstein aus Schloss Stolz entkommen. Meine Anerkennung. Sieh mal, Samson, was das für ein begabter Jüngling ist. Er ist kaum zwei Sonntage bei mir, und wie viel hat er schon gelernt! Schlau wie ein Dominikaner ist er geworden, bei seiner Mutter!«
    »Er reitet nach Münsterberg«, meinte Samson, anscheinend unbeteiligt, aber in seiner Stimme schwang Rührung mit. »Das spricht doch eindeutig gegen seine Schläue. Und gegen seinen Verstand. Wie steht es denn damit,

Weitere Kostenlose Bücher