Narrenturm - Roman
durchquerten.
Sie durchquerten die Neiße am Nachmittag, an einer nicht eben gut ausgewählten Stelle, die zwar flach erschien, aber dafür war hier die Strömung viel stärker, als sie angenommen hatten. Inmitten des Durcheinanders, des Geplantsches, der Flüche und des Gewiehers rutschte Nicoletta vom Sattelknopf und wäre fast ins kühle Wasser geglitten, wäre nicht der aufmerksame Reynevan in ihrer Nähe gewesen.
»Nur Mut«, flüsterte er ihr ins Ohr, hob sie hoch und drückte sie an sich, »Mut, Nicoletta. Ich hole dich hier raus . . .«
Er nahm ihre kleine, schmale Hand und drückte sie. Sie erwiderte den Händedruck kräftig. Sie roch nach Minze und Kalmus.
»He!«, schrie Buko. »Du! Hagenau! Lass sie los! Hubertl!«
Samson ritt zu Reynevan, nahm ihm Nicoletta aus den Armen, hob sie wie eine Feder in die Höhe und setzte sie vor sich auf das Pferd.
»Ich hab’ sie lang genug gehalten, Herr!«, kam Hubertl Buko zuvor. »Jetzt kann mich der Riese mal ein wenig ablösen.«
Buko fluchte, winkte aber ab. Reynevan betrachtete ihn mit wachsendem Groll. Er glaubte nicht recht an die menschenfressenden Wasserungeheuer, die in den Strudeln der Neiße in der Nähe von Wartha hausen sollten, jetzt aber hätte er viel darum gegeben, wenn eines dieser Ungeheuer aus dem trüben Wasser des Flusses aufgetaucht wäre und den Raubritter samt seinem rotbraunen Hengst verschlungen hätte.
»Eines muss ich dir zugestehen«, sagte Scharley halblaut, während er neben ihm durch das Wasser ritt. »Mit dir kann man sich nicht langweilen.«
»Scharley . . . ich schulde dir . . .«
»Du schuldest mir viel, das will ich gar nicht leugnen.« Der Demerit straffte die Zügel. »Aber wenn du meinst, mir eine Erklärung zu schulden, dann kannst du sie dir gleich schenken. Ich weiß, wer sie ist. Auf dem Turnier in Münsterberg hast du sie wie ein abgestochenes Kalb angeglotzt, später hat sie uns gewarnt, dass sie es auf Stolz auf dich abgesehen haben. Ich wette, du stehst noch tiefer in ihrer Schuld. Hat dir schon mal jemand prophezeit, dass Frauen dein Verderben sind? Oder bin ich da der Erste?«
»Scharley . . .«
»Bemüh dich nicht«, unterbrach ihn der Demerit. »Ich verstehe schon. Schuldgefühle und eine große Zuneigung – und wir müssen mal wieder den Kopf dafür hinhalten, und der Weg nach Ungarn wird immer weiter und weiter. Da ist guter Rat teuer. Ich bitte dich nur um eines: Denk nach, bevor du etwas tust. Kannst du mir das versprechen?«
»Scharley . . . Ich . . .«
»Ich hab’s gewusst. Pass auf, sei still. Sie schauen zu uns her. Und treib dein Pferd an, treib es an! Sonst reißt dich die Strömung fort!«
Noch vor dem Abend erreichten sie den Fuß des Reichensteiner Gebirges, den nordwestlichen Ausläufer der die Grenze bildenden Gebirgszüge des Reichenstein und des Jesenik. In einem Weiler, der an dem vom Gebirge herabströmenden Flüsschen Bystra lag, wollten sie rasten und ein Mahl einnehmen, aber die Bauern dort erwiesen sich als ungastlich – sie ließen sich nicht bestehlen. Aus einem Verhau, der den Weg versperrte, prasselten Pfeile auf die Raubritter nieder, und die grimmigen Gesichter der mit Mistgabeln und Breitbeilen bewaffneten Knechte waren nicht dazu angetan, die Gastfreundschaftmit Gewalt zu erzwingen. Wer weiß, wie es in einer gewöhnlichen Situation gekommen wäre, jetzt aber taten die Verletzungen und die Müdigkeit das ihrige. Als Erster wendete Tassilo de Tresckow sein Pferd, Rymbaba tat es ihm, eifrig wie immer, nach, auch Notker Weyrach kehrte um, ohne diesmal auch nur ein Schimpfwort gegen das Dorf zu richten.
»Verdammte Flegel!« Buko von Krossig holte sie ein. »Man müsste ihnen, wie das mein Vater getan hat, wenigstens einmal in fünf Jahren die Buden stürmen und alles bis auf den Grund niederbrennen. Sonst werden sie aufmüpfig. Der Wohlstand verdreht ihnen die Köpfe. Macht sie stolz.«
Es bewölkte sich. Rauch wehte vom Dorf her. Hunde bellten.
»Vor uns liegt der Schwarze Wald«, warnte sie der an der Spitze reitende Buko. »Bleibt dicht beieinander! Dass mir keiner zurückbleibt! Gebt auf die Pferde Acht!«
Die Warnung wurde ernst genommen. Denn der Schwarze Wald, ein dichter, feuchter nebliger Komplex aus Buchen, Eiben, Erlen und Hainbuchen, wirkte äußerst düster. So düster, dass einem Schauer über den Rücken liefen. Man spürte sofort das Böse, das dort irgendwo im Dickicht schlief.
Die Pferde schnaubten und schüttelten die Köpfe.
Das
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