Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
verhinderte, dass man seine Tiefe abschätzen konnte. Auf der anderen Seite zitterten Lichter in der Dunkelheit, hoben sich Umrisse von Gebäuden ab.
    »Absteigen!«, kommandierte Buko. »Herr Huon, dürfen wir Euch bitten.«
    »Haltet die Pferde.« Der Magier stand am Rande des Abgrundes und hob seinen gekrümmten Stab. »Haltet sie gut fest.«
    Er schwenkte den Stab, rief eine Zauberformel, die ebenso wie am Steubernhau Arabisch zu sein schien, aber viel länger, komplizierter und schwieriger war   – auch vom Klang her. Die Pferde schnaubten, wichen zurück und stampften ängstlich auf.
    Es fing an, kalt zu wehen, plötzlich, als habe sie im Hinterhalt gelauert, überzog sie Eiseskälte. Der Frost stach ihnen in die Wangen, drang ihnen in die Nasen, ließ ihnen die Augen tränen und gelangte trocken und schmerzhaft mit dem Atem in die Kehle. Die Temperatur sank so stark, als befänden sie sich inmitten einer Sphäre, die alle Kälte der Welt einzusaugen schien.
    »Haltet . . . die Pferde fest . . .« Buko bedeckte sein Gesicht mit dem Arm. Woldan von Nossen stöhnte und hielt seinen bandagierten Kopf. Reynevan spürte, wie sich seine Finger, die die Zügel umklammerten, krümmten und gefühllos wurden.
    Die Kälte der Welt, die der Zauberer herbeigerufen hatte und die bisher nur zu fühlen gewesen war, wurde plötzlich sichtbar, nahm in einem sich über dem Abgrund erstreckenden weißen Schimmer Gestalt an. Der Schimmer funkelte zunächstvon Schneeflocken, dann wurde er blendend weiß. Ein lang gedehntes, immer lauter werdendes Knistern war zu hören, ein knirschendes
crescendo
, das in einem gläserklingenden, zitternden Akkord, glockenrein, seinen Höhepunkt erreichte.
    »Ich glaub’s ni . . .«, begann Rymbaba. Und verstummte.
    Über dem Abgrund lag eine Brücke, glitzernd und funkelnd wie ein Brillant.
    »Weiter!« Huon von Sagar fasste sein Pferd stramm am Zaumzeug. »Wir gehen hinüber.«
    »Hält das denn auch? Wird es nicht brechen?«
    »Mit der Zeit bricht es.« Der Magier zuckte mit den Achseln. »Das hält nicht lange. Je länger wir zögern, umso größer wird das Risiko.«
    Notker Weyrach stellte keine weiteren Fragen. Eilig zog er sein Pferd hinter sich her, Huon folgend. Hinter ihm betrat Kuno Wittram die Brücke, als Nächster ging Rymbaba. Die Hufe klapperten auf dem Eis, ein gläsernes Echo hallte zurück.
    Als er sah, dass Hubertl mit dem Pferd und Katharina von Biberstein überfordert war, eilte ihm Reynevan zu Hilfe, aber Samson war noch vor ihm da und nahm das Mädchen auf den Arm. Buko von Krossig hielt sich dicht dahinter, sein Blick war aufmerksam, seine Hand lag am Schwertknauf.
    Die Kälte verströmende Brücke dröhnte unter dem Hufschlag. Nicoletta blickte nach unten und begann leise zu wimmern. Reynevan sah ebenfalls hinunter und musste schlucken. Durch die Eiskristalle hindurch waren der Nebel auf dem Grunde der Schlucht und die ihn durchdringenden Wipfel der Fichten zu sehen.
    »Schneller!« Huon von Sagar trieb sie von vorn an. Als wüsste er es.
    Die Brücke ächzte, wurde vor ihren Augen zusehends weißer, verlor ihre Durchsichtigkeit. An zahlreichen Stellen waren lange Risse zu sehen.
    »Schneller, verdammt noch mal, schneller!« Reynevan trieb Tassilo de Tresckow an, der Woldan von Nossen führte. DiePferde, die Scharley, der das Ende des Zuges bildete, hinter sich herzog, schnaubten. Sie wurden immer unruhiger, brachen seitlich aus und stampften auf. Und mit jedem Aufstampfen nahm die Zahl der Risse und Sprünge in der Brücke zu. Das ganze Gebilde ächzte und stöhnte. Erste sich ablösende Schollen stürzten in die Tiefe.
    Endlich wagte es Reynevan nachzusehen, was sich unter seinen Füßen befand, und zu seiner unbeschreiblichen Erleichterung erblickte er Steine, Felssplitter, das Ende des Eisblocks. Er war auf der anderen Seite. Alle waren auf der anderen Seite.
    Die Brücke knirschte, ächzte und zerbrach mit einem dumpfen Knall und hellem Glasklirren, zerstob in Millionen glitzernde Fragmente, die nach unten fielen und lautlos in dem nebligen Abgrund versanken. Reynevan seufzte laut auf, eine Stimme inmitten eines Chores aus Seufzern.
    »Das macht er immer so«, sagte der neben ihm stehende Hubertl halblaut. »Herrn Huon meine ich. Der redet bloß so daher. Da muss keiner Angst haben. Die Brücke hält, sie stürzt erst ein, wenn der Letzte darübergegangen ist. Egal, wie viele es sind. Herr Huon spaßt gern.«
    Scharley fasste seine Meinung über Huon und seinen

Weitere Kostenlose Bücher