Narrenturm - Roman

ausgebleichte Skelett, das dicht am Wegrand lag, erregte kein großes Aufsehen.
    Samson Honig brummte leise.
    Nel mezzo del cammin di nostra vita
    mi ritrovai per una selva oscura
    ché la diritta via era smarrita . . .
    »Dieser Dante geht mir einfach nicht aus dem Kopf«, erklärte er, als er bemerkte, dass Reynevans Blick auf ihm ruhte.
    »Und er passt so gut hierher«, spottete Scharley. »Ein nettesWäldchen, was immer man darüber auch sagen mag . . . Hier allein entlangzureiten . . . In der Dunkelheit . . .«
    »Ich rate davon ab«, meinte Huon von Sagar im Heranreiten. »Ich rate ganz entschieden davon ab.«
     
    Sie ritten bergan, der Weg wurde immer steiler. Der Schwarze Wald blieb langsam hinter ihnen zurück, die Buchen wurden immer weniger, und unter den Hufen knirschte Gneis, tönte Basalt. An den Seiten der Schlucht wuchsen bizarr geformte Felsen hervor. Die Dämmerung brach herein. Wolken, die in einer schwarzen Welle von Norden heranzogen, verdunkelten den Himmel.
    Auf Bukos energischen Befehl hin übernahm Hubertl von Samson wieder Nicoletta. Darüber hinaus überließ Buko, der bisher an der Spitze geritten war, jetzt Weyrach und de Tresckow die Führung und blieb in der Nähe des Knappen und seiner Beute.
    »Verdammt noch mal . . .«, raunte Reynevan dem neben ihm reitenden Scharley zu. »Ich muss sie doch befreien . . . Und der da hat anscheinend Verdacht geschöpft . . . Er passt auf sie auf, und uns beobachtet er die ganze Zeit . . . Warum?«
    »Vielleicht«, antwortete Scharley leise, und Reynevan sah mit Entsetzen, dass es gar nicht Scharley war, »vielleicht hat er dein Gesicht erforscht, das der Spiegel deiner Gefühle und Absichten ist?«
    Reynevan fluchte vor sich hin. Es war schon sehr dunkel, aber er konnte für seinen Irrtum nicht allein die Dunkelheit verantwortlich machen. Der weißhaarige Magier hatte, wie es schien, Magie verwendet.
    »Wirst du mich verraten?«, fragte er ihn unumwunden.
    »Ich werde dich nicht verraten«, antwortete der Magier nach einer Weile. »Und wenn du anfängst, Dummheiten zu machen, werde ich dich daran hindern. Du weißt, dass ich es kann. Also mach keine Dummheiten! An Ort und Stelle wird man weitersehen . . .«
    »An welchem Ort?«
    »Jetzt bin ich dran.«
    »Wie bitte?«
    »Jetzt ist es an mir, Fragen zu stellen. Was denn, kennst du die Spielregeln nicht? Habt ihr das an der Universität nicht gespielt?
Quaestiones de quodlibet?
Du hast als Erster gefragt. Jetzt bin ich dran. Wer ist dieser Riese, den ihr Samson nennt?«
    »Er ist mein Gefährte und Freund. Außerdem, warum fragst du ihn nicht selbst? In der Gestalt eines anderen, verborgen hinter einem magischen Zauber?«
    »Das habe ich schon versucht«, gab der Zauberer offen zu. »Aber das ist ein Schlauberger. Er hat die Tarnung sofort durchschaut. Wo habt ihr ihn aufgelesen?«
    »In einem Benediktinerkloster. Aber, wenn das ein
quodlibet
sein soll, bin ich jetzt dran. Was macht der berühmte Huon von Sagar in der
comitiva
eines Buko von Krossig, eines schlesischen Raubritters?«
    »Du hast von mir gehört?«
    »Wer hätte nicht von Huon von Sagar gehört? Und von der Matavermis, jenem mächtigen Zauberspruch, der im Jahre 1412 das Feld an der Weser vor den Heuschrecken gerettet hat?«
    »Es waren gar nicht so furchtbar viele Heuschrecken«, meinte Huon bescheiden. »Und was deine Frage anbelangt . . . Was soll’s, ich sichere mir so mein Auskommen, freie Kost und freie Kleidung und einen angemessenen Lebensstandard. Natürlich muss man dafür auch Verzicht leisten.«
    »Manchmal auch auf Regungen des Gewissens?«
    »Reinmar de Bielau«, der Zauberer überraschte Reynevan einmal mehr durch sein Wissen, »das Fragespiel ist kein Disput über Ethik. Gut, ich beantworte deine Frage: manchmal schon. Aber das Gewissen ist wie der Körper: Man kann es stählen. Und jeder Stock hat zwei Enden. Genügt dir das?«
    »So sehr, dass ich keine weiteren Fragen habe.«
    »Dann habe ich gewonnen.« Huon von Sagar zügelte seinen Rappen. »Und was das Fräulein betrifft . . . Bewahre kaltes Blut,und mach keine Dummheiten. Ich sage doch, an Ort und Stelle wird man sehen. Wir sind auch gleich da. Vor uns liegt der Abgrund. Gehab dich wohl solange, es gibt Arbeit.«
     
    Sie mussten anhalten. Der unter einer Steilwand entlangführende Weg verschwand teilweise unter Geröllmassen, die ein Bergrutsch herbeigeführt hatte, dann brach er völlig ab und verschwand in einem Abgrund. Diesen füllte grauer Nebel, der