Narrenturm - Roman
nicht beklagen. Insgesamt gesehen aber hatte er keinen Grund, sich zu beklagen. Obwohl er statt der zehn Stunden anderthalb Tage und zwei Nächte auf der Schute verbracht hatte, war er doch einigermaßen in Sicherheit, reiste bequem, gönnte sich eine Erholung, schlief sich ordentlich aus und aß sich satt. Ja, er führte sogar eine Unterhaltung.
Der Wasserpole war, obwohl er Reynevan seinen Namen nicht genannt und dies auch von ihm nicht verlangt hatte, im Grunde ein ziemlich sympathischer, netter und umgänglicherMensch. Obwohl zugeknöpft und brummig, war er keineswegs frech oder unverschämt. Er war zwar einfach, aber nicht dumm. Die Schute kreuzte zwischen Büschen und Untiefen hindurch, und legte bald am linken, bald am rechten Ufer an den Stegen an. Die vierköpfige Besatzung tummelte sich, der Schiffer fluchte und trieb sie an. Die Frau des Wasserpolen führte das Steuer, ein Weib, das deutlich jünger war als er. Um nicht als unhöflich zu gelten, vermied Reynevan, sooft es ging, den Blick auf ihre stämmigen Beine, die unter dem aufgeschürzten Rock hervorsahen. Wenn es ihm gelang, wandte er auch den Blick, wenn sich bei Manövern mit dem Steuerruder das Hemd über ihren Brüsten spannte, die einer Venus zur Ehre gereicht hätten.
Reynevan steuerte mit der Schute Anlegeplätze an der Oder an mit Namen wie Jazica, Friedrichstal, Klemmen und Mat, wurde Augenzeuge gemeinschaftlicher Fischzüge, geschäftlicher Unternehmungen und Heiratsvermittlungen. Er sah dem Ein- und Ausladen der unterschiedlichsten Waren zu. Er erblickte Dinge, die er noch nie vorher gesehen hatte, wie etwa einen fünf Ellen langen und hundertzwanzig Pfund schweren Wels. Er aß, was er noch nie zuvor gegessen hatte, wie etwa über Kohlen gegrillte Filets von jenem Wels. Er erfuhr, wie man sich vor Wassermännern, Nixen und Strudelgeistern schützen muss. Was der Unterschied zwischen einem Langnetz und einem Flachnetz, zwischen einem Wehr und einem Damm, zwischen einer Sandbank und einer Gefällestufe, zwischen einer Brasse und einem Güster ist. Er hörte viele hässliche Worte über deutsche Herren, die Wasserpolen mit räuberischen Zöllen, Mauten und Steuern belegten.
Wie sich erwies, war der darauf folgende Morgen ein Sonntag. Die Wasserpolen und die ansässigen Fischer arbeiteten nicht. Sie beteten lange vor den recht plump ausgeführten Figuren der Gottesmutter und Sankt Petrus, dann ließen sie es sich schmecken, anschließend hielten sie so etwas wie eine Beratung ab, danach betranken und schlugen sie sich.
So war die Reise, obwohl sie sich in die Länge zog, doch niemals langweilig. Und nun dämmerte es, oder besser gesagt, es war schon früher Morgen. Und die Stadt Ohlau lag hinter der Flussbiegung. Die Frau des Wasserpolen stützte sich auf das Steuer, das Hemd spannte über ihren Brüsten.
»In Ohlau«, sagte der Schiffer, »brauche ich einen, höchstens zwei Tage, um verschiedene Angelegenheiten zu erledigen. Wenn Ihr also abwarten könnt, junger Herr Schlesier, nehme ich Euch mit bis nach Breslau. Ohne zusätzliche Kosten.«
»Danke.« Reynevan streckte ihm die Hand hin, sich dessen wohl bewusst, dass er Sympathien errungen hatte. »Danke, aber unterwegs hatte ich Gelegenheit, ein paar Dinge zu überdenken. Und jetzt passt mir Ohlau sogar besser als Breslau.«
»Wie Ihr wollt. Ich setze Euch ab, wo Ihr es wünscht. Am linken Ufer oder am rechten?«
»Ich wollte zum Weg nach Strehlen.«
»Also am linken Ufer. Ich versteh’ auch, dass ihr die Stadtgrenze eher meiden wollt?«
»Ganz recht«, bekannte Reynevan, verwundert über die Klugheit des Polen. »Wenn’s Euch recht ist.«
»Was soll mir nicht recht sein. Nach links steuerbord, Maryśka. Zum Drosselwehr.«
Hinter dem Drosselwehr zog sich ein breites Altwasser dahin, von einem Teppich gelb blühender Mummeln bedeckt. Über dem Altwasser lag Nebel. Von weitem hörte man schon die Geräusche der erwachenden Vorstadt von Ohlau – Hahnenkrähen, Hundegebell, das Klirren von Metall und die Kirchenglocken.
Auf ein Zeichen hin sprang Reynevan auf den schwankenden Steg. Die Schute scheuerte am Pfahl, zerteilte mit dem Bug die Wasserpflanzen und schwenkte gemächlich wieder in den Strom.
»Die ganze Zeit am Damm entlang!«, rief der Wasserpole. »So, dass Ihr die Sonne immer im Rücken habt. Bis zur Brücke über der Ohle, dann auf den Wald zu. Da kommt ein Bächleinund dahinter schon der Weg nach Strehlen. Ihr könnt nicht fehlgehen!«
»Danke! Fahrt mit
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