Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
Astolfo, Renaut de Montauban oder Raoul de Cambrai niemals begegnet war.
    Sein Pferd lahmte, einfach so.
    Reynevan stieg ab, sobald er den unregelmäßigen Gang seines Reittieres spürte. Er nahm Bein und Hufeisen des Grauschimmels in Augenschein, konnte aber nichts feststellen. Und noch weniger etwas unternehmen. Er konnte nur laufen und das lahmende Pferd am Zügel hinter sich herführen. Großartig!,dachte er. Von Mittwoch bis Freitag ein Pferd zuschanden und ein anderes lahm geritten. Großartig! Nicht schlecht.
    Zu allem Übel waren vom rechten, steilen Ufer der Stober auf einmal Pfiffe, Gewieher und Flüche zu hören, unverkennbar von der Stimme des Kunz Aulock, genannt Kyrieleison, ausgestoßen. Reynevan zog sein Pferd in dichteres Gebüsch und umfasste seine Nüstern, damit es nicht wieherte. Die Schreie und Flüche verhallten in der Ferne.
    Sie haben das Mädchen erwischt, dachte er, und sein Herz rutschte ihm in die Hosentasche, aus Furcht wie auch wegen seiner Gewissensbisse. Sie haben sie eingeholt.
    Sie haben sie nicht eingeholt, beruhigte ihn sein Verstand. Sie sind höchstens auf ihr Gefolge gestoßen und haben den Irrtum erkannt. Während »Nicoletta« sie auslachte und verspottete, wohl geborgen im Kreise ihrer Ritter und Knappen.
    Sie waren also zurückgekehrt, schwärmten aus, suchten. Die Jäger.
     
    Die Nacht über saß er in den Büschen, klapperte mit den Zähnen und verscheuchte die Mücken. Ohne ein Auge zuzutun. Vielleicht hatte er auch ein Auge zugetan, doch wohl nur für ein kleines Weilchen. Er musste aber wohl eingeschlafen sein, denn wie anders hätte er sonst das Mädchen aus der Schenke vor sich sehen können, jene graue, unauffällige Gestalt mit dem Butterblumenring am Finger? Wie anders als im Traume hätte sie zu ihm gelangen können?
    So wenige von uns sind noch übrig, hatte das Mädchen gesagt, so wenige. Lass dich nicht fangen, lass dich nicht ausspähen. Was hinterlässt keine Spur? Der Vogel in der Luft, der Fisch im Wasser.
    Der Vogel in der Luft, der Fisch im Wasser.
    Er wollte sie fragen, wer sie war, woher sie die Gebinde kannte, womit sie   – doch wohl nicht mit Schießpulver   – die Explosion im Kamin ausgelöst hatte. Er wollte sie so viele Dinge fragen. Es gelang ihm nicht. Er erwachte.
    Noch vor dem Morgengrauen machte er sich wieder auf den Weg. Er folgte dem Flusslauf. Er war vielleicht eine Stunde gegangen, wobei er sich an die etwas erhöhteren Wege hielt, als plötzlich unter ihm im Tal ein breiter Fluss dahinzog. So breit, wie es nur einen in ganz Schlesien gab.
    Die Oder.
     
    Auf der Oder segelte eine kleine Barkasse stromaufwärts, voller Grazie, geschickt, wie ein Haubentaucher über einer hellen Untiefe dahinstreicht. Reynevan betrachtete sie neugierig . . .
    So listig seid ihr also, dachte er, während er zusah, wie der Wind das Segel der Barkasse blähte und vor dem Bug das Wasser aufschäumte. Solche Jäger seid ihr also? Herr Kyrieleison
et consortes?
Ihr glaubt, ihr werdet mich einkreisen, sobald ihr den Wald verlassen habt? Wartet nur, ich werde euch schon eine Nase drehen! Ich werde eure feindlichen Linien durchbrechen und eure Fallen so geschickt und gekonnt umgehen, dass ihr den Teufel fresst, bevor ihr wieder auf meine Spur stoßt. Denn diese Spur müsst ihr vor Breslau suchen.
    Der Vogel in der Luft, der Fisch im Wasser . . .
    Er zog den Grauschimmel zu einem zur Oder hinführenden, ausgefahrenen Weg. Sicherheitshalber benutzte er ihn aber nicht, sondern hielt sich zwischen Weiden und Gestrüpp. Der Weg aber führte, genau wie er gedacht hatte, geradewegs zu einer Anlegestelle.
    Er sollte Recht behalten.
    Schon von weitem hörte er die lauten, erregten Stimmen der Leute an der Anlegestelle, wobei nicht klar war, ob sie sich stritten oder nur im Handelseifer lauter sprachen. Mit Leichtigkeit ließ sich aber die Sprache erkennen, derer sie sich bedienten. Sie sprachen polnisch.
    Noch bevor er aus dem Gebüsch heraustrat und von der Böschung her die Anlegestelle betrachten konnte, wusste Reynevan, wem die Stimmen wie auch die an Pfählen verzurrten kleinen Schuten, Barkassen und Kähne gehörten. Es warenWasserpolen. Oderflößer und -fischer, eher als Clan organisiert, denn als Zunft, eine Gemeinschaft, die neben ihrer Beschäftigung ihre Sprache und das starke Zugehörigkeitsgefühl einer nationalen Minderheit pflegte. In den Händen der Wasserpolen befand sich ein Großteil der schlesischen Fischereiwirtschaft, ein bedeutender Anteil am

Weitere Kostenlose Bücher