Narrenturm - Roman
in die Flanken, raste im Galopp über die blühende Heide auf die waldbestandene Anhöhe zu, hinter der er segenbringende, ausgedehnte Wälder vermutete.
Obwohl er wusste, was er riskierte, zwang er das heftig schnaubende Pferd in angestrengtem Galopp die Anhöhe hinauf. Auch oben gönnte er dem Grauschimmel keine Ruhe, sondern trieb ihn durch das Gebüsch am Wegrand. Und dort verstellte ihm völlig unerwartet ein Reiter den Weg.
Der erschrockene Grauschimmel bäumte sich auf und wieherte laut. Reynevan gelang es, im Sattel zu bleiben.
»Nicht übel«, sagte der Reiter. Oder besser gesagt die Amazone. Denn das war zweifelsohne ein Mädchen.
Hochgewachsen, in Männerkleidern, einem engen Wams aus Samt, unter dem am Hals der Streifen eines schneeweißen Hemdes hervorlugte. Mit einem dicken blonden Zopf, der unter einer Zobelkappe, die ein Strauß Reiherfedern und eine goldene Brosche mit einem Saphir schmückte, der gewiss dem Wert eines guten Reitpferdes entsprach, bis auf die Schulter herabfiel.
»Wer jagt dir denn hinterher?«, rief sie und zügelte geschickt ihr tänzelndes Pferd. »Das Gesetz? Rede, aber sofort!«
»Ich bin kein Verbrecher . . .«
»Weshalb dann?«
»Der Liebe wegen.«
»Ha! Hab’ ich es mir doch gleich gedacht! Siehst du diese Reihe dunkler Bäume? Da fließt die Stober. Reite schnell dorthin und verbirg dich in den Sümpfen am linken Ufer. Ich lenke sie derweil von dir ab. Gib mir deinen Mantel her!«
»Aber, Fräulein, wie könnt Ihr . . . Wieso . . .«
»Wirf mir den Mantel her, hab ich gesagt! Du reitest zwar gut, aber ich reite besser. Ach, was für ein Abenteuer! Ach, werde ich viel zu erzählen haben! Elżbieta und Anka werden sich vor Eifersucht winden!«
»Fräulein . . .«, stotterte Reynevan, »ich kann nicht . . . Was wird, wenn sie Euch kriegen?«
»Die? Mich?« Sie prustete und zwinkerte mit ihren türkisgrünen Augen. »Du machst dich wohl über mich lustig!«
Ihre Stute, zufällig auch ein Grauschimmel, warf graziös den Kopf nach hinten und tänzelte erneut. Reynevan musste dem seltsamen Fräulein wohl oder übel Recht geben. Dieses edle Ross, flink, wie man auf den ersten Blick sah, war viel mehr wert als die Saphirbrosche an der Zobelkappe.
»Das ist Wahnsinn!«, rief er, als er den Mantel hinüberwarf. »Aber danke! Ich werde es Euch entgelten . . .«
Vom Fuße des Hügels her erklangen die Rufe der Verfolger.
»Verlier keine Zeit!«, befahl ihm das Fräulein und zog sich die Kapuze über den Kopf. »Weiter! Hinter die Stober!«
»Fräulein . . . Dein Name . . . Nenne ihn mir . . .«
»Nicoletta. Mein um der Liebe willen verfolgter Aucassin. Leeeb wooohl!«
Sie trieb die Stute zum Galopp an, aber das war eher ein Flug denn ein Galopp. Wie ein Sturmwind raste sie den Hügel hinunter, inmitten einer Staubwolke zeigte sie sich den Verfolgern und jagte in einem derart verrückten Tempo über die Heide, dass sich Reynevan sogleich keine Vorwürfe mehr machte. Er begriff, dass die hellhaarige Amazone kein allzu großes Risikoeinging. Die schweren Gäule von Kyrieleison, Stork und den anderen, die zweihundert Pfund schwere Männer trugen, konnten mit der wendigen Grauschimmelstute, die nur ein zartes Mädchen und einen leichten Sattel zu tragen hatte, nicht konkurrieren.
Das Mädchen ließ sie nicht einmal auf Sichtweite an sich heran, sondern verschwand sehr schnell hinter dem Hügel. Die Verfolger setzten ihr nach, hart und unerbittlich.
Sie könnten sie durch gleichmäßiges Tempo ermüden, sie und die Stute, dachte Reynevan erschrocken. Aber, beruhigte er rasch sein Gewissen, sie hat sicher ihr Gefolge hier ganz in der Nähe. Auf solch einem Pferd, derart gekleidet, es war doch offensichtlich, dass sie aus einer vornehmen Familie stammen musste, eine wie sie reitet nicht allein umher, dachte er, während er im Galopp in die Richtung sprengte, die das Fräulein ihm gewiesen hatte.
Und natürlich, dachte er, während er im Galopp den Wind trank, heißt sie nicht Nicoletta. Sie hat sich bloß über mich armen Aucassin lustig gemacht.
Reynevan, im Erlengehölz zwischen den Sümpfen an der Stober gut verborgen, atmete erleichtert auf, ach, er fühlte sich sogar stolz und kühn, ein wahrer Roland, oder ein Ogier, der die ihn verfolgenden Mauren in die Irre führte und sie verspottete. Übermut und Wohlsein verließen ihn jedoch rasch, als ihm ein zutiefst unritterliches Unglück widerfuhr, das, wenn man den Balladen Glauben schenken durfte, Roland, Ogier,
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