Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
dass der Propst und der Rabbi mit der Reise nach Strehlen das gleiche Ziel verfolgten: Beide wollten nämlich zur Anhörung beim Kanonikus des Breslauer Kapitels, der die Stadt und die Pfarrei besuchte. Während Pfarrer Granciszek, wie er ihnen gestand, dorthin gerufen, um nicht zu sagen, befohlen worden war, hegte der Rabbi lediglich die Hoffnung, empfangen zu werden. Der Propst machte ihm wenig Hoffnungen.
    »Der hochwürdige Kanonikus«, erklärte er, »hat dort Arbeit genug. Tausend Dinge sind zu erledigen, Gericht ist zu halten, Verhöre sind vorzunehmen. Denn schwere Zeiten sind dort angebrochen, oh, schwere Zeiten!«
    »Als ob es jemals leichte gegeben hätte!« Dorothea Faber zog die Zügel an.
    »Ich spreche von schweren Zeiten für die Kirche«, sagte Pfarrer Granciszek bedeutsam. »Und für den wahren Glauben. Denn die Häresie breitet sich aus, wie Unkraut breitet sie sich aus. Triffst du einen, der dich im Namen Gottes grüßt, errätst du nie, ob das nicht ein Häretiker ist. Sagtet Ihr etwas, Rabbi?«
    »Liebe deinen Nächsten«, brummte Hiram ben Elieser, bei dem man nicht wusste, ob er nicht gerade träumte. »Der Prophet Elias kann jedes Gesicht machen.«
    »Ach!« Pfarrer Philip machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist jüdische Philosophie. Ich aber sage: Wachsamkeitund Arbeit, Wachsamkeit, Arbeit und Gebet. Denn der Fels Petri zittert und wackelt. Das Unkraut der Häresie breitet sich aus.«
    »Das sagtet Ihr bereits, Pater.« Urban Horn zügelte sein Pferd, um neben dem Wagen zu reiten.
    »Weil es die Wahrheit ist.« Pfarrer Granciszek, schien’s, war die Müdigkeit vergangen. »Man kann es nicht oft genug sagen, es ist die Wahrheit. Die Ketzerei breitet sich aus, die Apostasie mehrt sich. Wie Pilze schießen die falschen Propheten aus dem Boden, bereit, mit ihren falschen Lehren das Testament Gottes zu verfälschen. Wahrlich, wahrhaft prophetisch hat der Apostel Paulus an Timotheus geschrieben: ›Denn es wird eine Zeit kommen, wo sie die rechte Lehre nicht ertragen werden; sondern nach ihrem Gutdünken werden sie sich selbst neue Lehrer suchen, weil sie stets auf Neues aus sind. Von der Wahrheit werden sie die Ohren abwenden und sich den Fabeleien zukehren.‹ Und sie werden behaupten   – Christe erbarme dich   –, dass sie im Namen der Wahrheit tun, was sie tun.«
    »Alles auf dieser Welt«, bemerkte Urban Horn unwillkürlich, »wird mit der Parole des Kampfes um die Wahrheit versehen. Und obwohl es dabei um ganz unterschiedliche Wahrheiten geht, zieht eine Wahrheit ihren Nutzen daraus. Die echte.«
    »Das klang ketzerisch, was Ihr da grade gesagt habt.« Pfarrer Granciszek runzelte die Stirn. »Mir, lasst Euch das gesagt sein, passt, was die Wahrheit anbelangt, was Meister Johannes Nider in seinem
Formicarius
geschrieben hat. Er hat die Ketzer mit jenen in Indien lebenden Ameisen verglichen, die eifrig aus dem Sande Goldkörnchen sammeln und in ihren Ameisenhaufen tragen, obwohl sie keinerlei Nutzen von jenem Goldstaub haben, ihn weder essen noch anderweitig verwenden. Genauso, schreibt Meister Nider in seinem
Formicarius,
sind die Häretiker, die in der Heiligen Schrift wühlen und die Körnchen der Wahrheit darin suchen, obwohl sie selbst nicht wissen, was sie damit anfangen sollen.«
    »Das war schön gesprochen«, seufzte Dorothea Faber und trieb den Wallach an. »Das mit den Ameisen, meine ich. Ach, wenn ich so etwas Gelehrtes höre, kribbelt es mir gleich im Bauch.«
    Der Pfarrer achtete weder auf sie noch auf ihren Bauch.
    »Die Katharer«, predigte er, »oder Albigenser, die die Hand, die sie in den Schoß der Kirche zurückführen sollte, wie Wölfe gebissen haben, die Waldenser und Lollarden, die die Kirche und den Heiligen Vater gelästert und die Liturgie ein Hundegebell genannt haben. Die widerlichen Renegaten der Bogomilen und der Paulikianer, die ihnen ähnlich sind. Die Alexianer und die Patripassianer, die es gewagt haben, die Heilige Dreifaltigkeit zu verleugnen. Die Fratizellen aus der Lombardei, diese Lumpen und Räuber, die so manchen Geistlichen auf dem Gewissen haben. Und genauso die Dulcineaner, die Anhänger des Fra Dolcino.
Item,
verschiedene andere Abtrünnige: Priscillianer, Petrobrusianer, Arnoldisten, Speronisten, Passaginer, Messalianer, Apostoliker, die Pastorellen, Patarener und Maurizianer. Poplikaner und Turlupins, die die
divinitas
Christi negieren, die Sakramente verwerfen und sich vor dem Teufel verneigen. Die Luziferianer, ihr Name bringt

Weitere Kostenlose Bücher