Narrenturm - Roman
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Halt! Er rief sich selbst zur Ordnung. Adele trägt keinen Zopf.
Ich muss mich beherrschen, ermahnte er sich, in die Wirklichkeit zurückkehrend, und trieb sein Pferd an. Nicoletta, die Amazone mit dem strohblonden Zopf, bedeutet mir nichts. Natürlich, sie hat mich gerettet, hat meine Verfolger abgelenkt, und ich werde ihr bei Gelegenheit dafür danken. Ja, ich werfemich ihr sogar zu Füßen. Aber ich liebe Adele, und nur Adele, Adele ist die Herrin meines Herzens und meiner Gedanken, ich denke nur an Adele und verschwende weder einen Gedanken an einen blonden Zopf noch an den Blick aus den blauen Augen unter der Zobelkappe, noch an den himbeerfarbenen Mund oder gar an die wohlgeformten Beine, die die Seiten der Stute umklammerten . . .
Ich liebe Adele, Adele, von der mich höchstens noch drei Meilen trennen. Wenn ich das Pferd im Galopp gehen ließe, wäre ich noch vor dem Mittagsläuten vor den Stadttoren von Münsterberg.
Ruhig, ganz ruhig. Ohne Hast. Mit kühlem Kopf. Zuerst muss ich bei der Gelegenheit und weil es am Wege liegt, meinen Bruder aufsuchen. Sobald ich Adele aus dem herzoglichen Arrest in Münsterberg befreit habe, verschwinden wir zusammen nach Böhmen oder nach Ungarn. Peterlin werde ich dann wohl nie mehr sehen. Ich muss mich von ihm verabschieden, ihm alles erklären. Und ihn um seinen brüderlichen Segen bitten.
Kanonikus Otto hat es verboten. Kanonikus Otto hat mir befohlen, mich wie ein Wolf zu verhalten und nie auf befahrenen Wegen zu reisen. Kanonikus Otto hat mich gewarnt, die Verfolger könnten mir bei Peterlins Hof auflauern . . .
Aber Reynevan fand auch hier einen Ausweg.
In die Ohle mündete ein Flüsschen, eigentlich war es ein Bächlein, im Schilf verborgen und unter dem Baldachin der Erlen kaum zu sehen. Reynevan folgte dem Oberlauf des Bächleins. Er kannte den Weg. Den Weg, der nicht nach Balbinow führte, wo Peterlin wohnte, sondern nach Powojowitz, wo er arbeitete.
Das erste Anzeichen, dass Powojowitz nicht mehr weit war, gab nach einiger Zeit das Bächlein selbst, an dessen Ufer Reynevan dahinritt. Es begann zu stinken, zuerst nur leicht, dann immer stärker und schließlich ganz fürchterlich. Gleichzeitig wechselte das Wasser gänzlich seine Farbe, es war jetzt voneinem bräunlichen Rot. Reynevan verließ den Wald und erblickte auch schon von weitem, was die Ursache dafür war – große, hölzerne Trockengerüste, von denen gefärbtes Leinen und Stoffbahnen herabhingen. Die rote Farbe überwog – sie wies auf die schon von dem Bächlein angekündigte Tagesproduktion hin –, aber es gab auch blaue, dunkelblaue und grüne Gewebe.
Reynevan kannte die Farben, die man bereits jetzt stärker mit Peter von Bielau in Verbindung brachte als die Farben seines Familienwappens. Er hatte auch ein wenig Anteil an diesen Farben, war er es doch gewesen, der dem Bruder geholfen hatte, die Farbsubstanzen zu gewinnen. Das tiefe, lebhafte Rot der bei Peterlin gefärbten Leinen und Stoffe entstammte einem Geheimrezept aus Schildlaus, Natternkopf und Färberröte. Alle Schattierungen von Blau erhielt Peterlin durch eine Mischung von Blaubeersaft und Waid, einen Waid, den er als einer der wenigen in Schlesien selbst zog. Waid gemischt mit Safran und Färberdistel ergab ein sattes, intensives Grün.
Der Wind wehte ihm entgegen und trug einen Gestank herüber, von dem die Augen tränten und sich die Nasenhaare krümmten. Komponenten des Färbens wie Bleichmittel, Laugen, Säuren, Pottasche, Erden, Aschen und Fette rochen bestialisch genug, manchmal stank es auch noch nach verdorbener Molke, in der – nach flämischer Rezeptur – die Leinenstücke am Ende zum Bleichen eingeweicht werden mussten. All das aber reichte nicht an den Geruch des Basisstoffes heran, den man in Powojowitz verwendete – den abgestandenen menschlichen Urins. Urin, der in riesigen Bottichen etwa zwei Wochen gelagert wurde, um dann in der Walkmühle beim Walken der Stoffe Verwendung zu finden. Die Auswirkungen waren so gewaltig, dass die Powojowitzer Walkmühle mit ihrer gesamten Umgebung wie das leibhaftige Unglück roch und günstige Winde den Gestank bis zum Zisterzienserinnenkloster nach Heinrichau trugen.
Reynevan ritt am Ufer des wie eine Latrine stinkendenBächleins entlang. Er konnte schon die Walkmühle hören – den unaufhörlichen Lärm der vom Wasser in Gang gehaltenen Antriebsräder, das Krachen und Kreischen der Zahnräder, das Knirschen des Getriebes; darunter mischte sich
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