Narrenturm - Roman
nicht ausreden. »Diejenigen, die dich verfolgen, haben das gewiss schon vorausgesehen. Ähnlich wie deinen Besuch bei mir. Merk dir eins: Wenn man flieht, dann verschwindet man wie ein Wolf. Niemals auf Wegen, die gangbar sind.«
»Aber mein Bruder . . . Peterlin . . . Wenn ich wirklich weg muss . . .«
»Ich selbst werde Peterlin durch verlässliche Boten über alles informieren. Dir aber verbiete ich, dorthin zu reisen. Hast du das begriffen, du Wahnsinniger? Du darfst keine Pfade benutzen, die deine Feinde kennen. Du darfst dich nicht an Orten zeigen, wo sie dir auflauern können. Und das heißt, in keinem Falle nach Balbinow. Und in keinem Falle nach Münsterberg.«
Reynevan seufzte laut, Otto Beess fluchte laut.
»Du hast nicht gewusst«, zischte er, »dass sie in Münsterberg ist. Und ich alter Narr hab’ es dir auch noch verraten. Na schön, es ist passiert. Aber das hat keinerlei Bedeutung. Ganz egal, wo auch immer sie ist. In Münsterberg, in Rom, in Konstantinopeloder in Ägypten, egal. Du wirst dich ihr nicht nähern, mein Sohn.«
»Werd’ ich nicht.«
»Du weißt gar nicht, wie gerne ich dir das glauben möchte. Hör zu, Reinmar, hör mir gut zu! Du bekommst einen Brief, ich werde gleich dem Sekretär auftragen, ihn zu verfassen. Du hast nichts zu befürchten, der Brief wird so abgefasst sein, dass nur der Empfänger seinen Inhalt versteht. Du nimmst den Brief und verhältst dich wie ein Wolf, der gejagt wird. Auf Wegen, die du nie betreten hast und auf denen dich niemand sucht, begibst du dich nach Striegau ins Karmeliterkloster. Du händigst meinen Brief dem Prior aus, er wird dich daraufhin mit einem Menschen bekannt machen. Zu diesem sagst du, wenn ihr allein seid: 18. Juli, Jahr achtzehn. Darauf wird er dich fragen: Wo? Du antwortest: Breslau, Neustadt. Hast du das behalten? Wiederhole!«
»18. Juli, Jahr achtzehn. Breslau, Neustadt. Was soll das Ganze? Ich verstehe nicht.«
»Wenn es wirklich gefährlich werden sollte«, erklärte der Kanonikus ruhig, »kann ich dich nicht retten. Höchstens, wenn ich dir eine Tonsur scheren und dich bei den Zisterziensern hinter Schloss und Riegel setzen lasse, aber das, so denke ich, willst du wohl vermeiden. Auf jeden Fall kann ich dich nicht nach Ungarn bringen. Der, dem ich dich empfehle, kann es. Er bürgt für deine Sicherheit, und wenn es nötig sein wird, wird er dich auch verteidigen. Das ist ein Mann, der in sich recht widersprüchlich ist, im Umgang manchmal recht unangenehm, aber das musst du hinnehmen, denn in gewissen Situationen ist er unersetzlich. Merk dir also: Striegau, das Kloster der Brüder
Beatae Mariae Virginis de Monte Carmelo
, außerhalb der Stadtmauer, am Weg zum Schweidnitzer Tor. Hast du alles behalten?«
»Ja, ehrwürdiger Vater.«
»Du machst dich unverzüglich auf den Weg. In Strehlen haben dich eh schon zu viele Leute gesehen. Gleich bekommst du deinen Brief, und dann husch, auf und davon.«
Reynevan seufzte. Er wollte nämlich unbedingt noch irgendwo bei einem Bier mit Urban Horn plaudern. Horn hatte in Reynevan große Achtung und Bewunderung erweckt. Da er stets von seinem Hund Beelzebub begleitet wurde, hatte er sich in Reynevans Phantasie in den Ritter Iwain mit dem Löwen verwandelt. Reynevan reizte es sehr, Horn einen bestimmten Vorschlag zu unterbreiten, der eine wahrhaft ritterliche Angelegenheit betraf: die gemeinschaftliche Befreiung einer gefangen gehaltenen Frau. Er hatte auch daran gedacht, sich von Dorothea Faber zu verabschieden. Aber was half’s, Ratschläge und Empfehlungen von Leuten wie Kanonikus Otto Beess durfte man nicht leichtfertig abtun.
»Vater Otto?«
»Ich höre.«
»Wer ist jener Mann bei den Karmelitern von Striegau?«
Otto Beess schwieg ein Weilchen.
»Jemand«, sagte er schließlich, »für den nichts unmöglich ist.«
Achtes Kapitel
in dem anfangs noch alles wunderbar ist. Späterhin jedoch nicht mehr.
R eynevan war froh und glücklich. Freude erfüllte ihn und alles ringsumher entzückte ihn durch seine Schönheit. Lieblich war das Tal der oberen Ohle, die sich in Bögen durch die Hügel wand. Anmutig trabte auch der stämmige braune Junghengst, ein Geschenk von Kanonikus Otto Beess, auf dem Weg am Fluss dahin. Die Drosseln in den Bäumen am Wege sangen wundervoll, noch herrlicher die Lerchen über den Feldern. Munter summten auch die Bienen, Käfer und Bremsen. Ein von den Bergen wehender lauer Zephir trug wonnige Düfte, bald von Jasmin, bald von Faulbaum, herüber.
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