Narrenturm - Roman
hatte.
»Aus Freundlichkeit also«, wiederholte Horn, »rate ich dir zu fliehen. Verschwinde, Reinmar! Höre auf den Rat von Kanonikus Beess. Denn ich verwette meinen Kopf, diesen Rat hat er dir erteilt, hat dir Vorschläge gemacht, wie du aus der Kabale herauskommst, in die du dich verstrickt hast. Man schlägt die Hinweise und Warnungen von solchen Leuten wie Kanonikus Beess nicht in den Wind, mein Junge. Beelzebub, nicht fassen! Um deinen Bruder«, fuhr Urban Horn fort, »tut es mir unendlich leid. Du kannst nicht wissen, wie sehr. Leb wohl, und nimm dich in Acht!«
Als Reynevan die Augen wieder öffnete, die er beim Anblick von Beelzebubs Schnauze dicht vor seinem Gesicht geschlossen hatte, war niemand mehr in der Scheune, weder der Hund noch Horn.
Der am Grabe seines Bruders hockende Reynevan krümmte sich erbärmlich und bebte vor Angst. Um sich herum verstreute er Salz, mit der Asche von Haselnusszweigen vermengt, und immer wieder wiederholte er mit zitternder Stimme die Beschwörungsformel. Er glaubte immer weniger an ihre Wirksamkeit.
Wirfe saltze, wirfe saltze
Non timebis a timore nocturno
Weder die Pest noch den Gast der Finsternis
Noch den Dämon
Wirfe saltze, wirfe saltze
Die Monster wirbelten und heulten in der Dunkelheit.
Trotz des Risikos und des Zeitverlustes hatte Reynevan das Begräbnis des Bruders abgewartet. Er hatte sich trotz der Einwände seiner Schwägerin und ihres Anhangs nicht davon abhalten lassen, die Totenwache zu übernehmen, den Exequien beizuwohnen und die Messe zu hören. Er war dabei, als in Anwesenheit der schluchzenden Griselda, des Propstes und des kleinen Leichenzuges Peterlin auf dem Friedhof hinter der uralten Kirche von Wammelwitz ins Grab gelegt wurde. Erst dann war er fortgeritten. Das heißt, er hatte nur so getan, als ritte er fort.
Als die Dämmerung hereinbrach, war Reynevan auf den Friedhof zurückgekehrt. Er breitete auf dem frischen Grab sein Hexerinstrumentarium aus, das zu vervollständigen ihm ohne große Schwierigkeiten gelungen war. Der älteste Teil der Nekropole von Wammelwitz grenzte an eine vom Wasser ausgewaschene Höhle, der Boden war dort etwas eingesunken, wodurch der Zugang zu den alten Gräbern keinerlei Schwierigkeiten bot. In Reynevans magischem Arsenal befanden sich daher sowohl ein Sargnagel als auch ein Totenfinger.
Aber es halfen weder der Totenfinger noch der an der Friedhofsmauer gepflückte Eisenhut, weder Salbei noch Goldwucherblume, noch die Beschwörungsformel, die er über dem mit dem krummen Sargnagel auf das Grab geritzte Ideogramm gesprochen hatte. Peterlins Geist stieg trotz gegenteiliger Behauptungen in den Zauberbüchern nicht in ätherischer Gestalt aus dem Grabe. Er sprach auch nicht. Er gab kein Zeichen.
Hätte ich doch nur meine Bücher hier, dachte Reynevan, enttäuscht und verdrossen angesichts der vielen vergeblichenVersuche. Wenn ich das
Lemegeton
hätte oder das
Necronomicon . . .
Venezianisches Kristall . . . Ein wenig Mandragora . . . Wenn mir ein Destillierkolben zur Verfügung stünde und ich ein Elixier bereiten könnte . . . Wenn doch . . .
Vergeblich. Die Bücher, der Kristall, die Mandragora und der Destillierkolben waren weit weg, in Oels. Im Augustinerkloster. Oder, was wahrscheinlicher war, in den Händen der Inquisition.
Am Horizont zog rasch ein Gewitter herauf. Der grollende Donner, der die Blitze begleitete, wurde immer lauter. Der Wind hatte sich gelegt, die Luft war tot und schwer wie ein Leichentuch. Es ging wohl schon auf Mitternacht.
Und dann brach es los.
Der Blitz beleuchtete die Kirche. Reynevan nahm erschrocken wahr, dass der ganze Glockenturm von spinnenähnlichen Geschöpfen, die sich an ihm hinauf und hinab bewegten, nur so wimmelte. Vor seinen Augen tanzten und neigten sich die Friedhofskreuze, eines der entfernteren Gräber wölbte sich mächtig. Aus der Finsternis der Höhle erklang das Brechen von Sargdielen und lautes Schmatzen. Dann erhob sich ein Geheul.
Die Hände zitterten ihm wie bei einem Fieberanfall, als er das Salz rings um sich streute, und die Lippen versagten ihm beim Hervorstottern der Zauberformel beinahe den Dienst.
Vor der Höhle, im ältesten, mit Erlengebüsch bewachsenen Teil des Friedhofes, rumorte es am heftigsten. Das, was sich dort abspielte, konnte Reynevan zum Glück nicht sehen, selbst der Blitz hob nur undeutliche Schemen und Schatten aus dem Dunkel hervor. Umso stärkere Eindrücke empfing sein Gehör – die zwischen den alten Gräbern
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