Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
wabernden Gestalten stampften, schrien, brüllten, pfiffen, fluchten, klapperten und knirschten mit den Zähnen.
    Wirfe saltze, wirfe saltze . . .
    Eine Frau lachte mit hoher und dünner Stimme. Ein Bariton parodierte die Liturgie der Messe, begleitet vom hohlen Gelächter der anderen. Jemand schlug eine Trommel.
    Aus dem Dunkel tauchte ein Skelett auf. Es wanderte hin und her, ließ sich dann auf einem Grabhügel nieder und saß lange da, den Schädel mit seinen Knochenhänden umfassend. Nach einer Weile gesellte sich ein haariges Wesen mit riesigen Füßen zu ihm. Die Erscheinung kratzte sich ausgiebig die Füße, wobei sie stöhnte und seufzte. Das nachdenkliche Skelett schenkte ihr keinerlei Beachtung.
    Ein Fliegenpilz auf Spinnenbeinen wanderte vorbei, dahinter watschelte etwas, das aussah wie ein Pelikan, aber statt Federn hatte es Schuppen und den Schnabel voller spitziger Keime.
    Eine große Kröte sprang auf das Nachbargrab.
    Und da war noch etwas. Etwas, das   – Reynevan hätte schwören können   – ihn unablässig beobachtete und nicht aus den Augen ließ. Etwas, das tief im Dunkel verborgen war und selbst im grellen Licht der Blitze nicht sichtbar wurde. Sein forschender Blick erspähte jedoch Augen, die wie Faulbrand glühten. Und lange Zähne.
    Wirfe saltze.
Er warf die letzten Salzkrumen vor sich hin.
Wirfe saltze . . .
    Plötzlich zog ein heller, sich langsam bewegender Fleck seine Aufmerksamkeit auf sich. Er verfolgte ihn und wartete auf den nächsten Blitz. Als es blitzte, gewahrte er zu seiner Verwunderung ein Mädchen in einem weißen Gewand, das großblättrige Friedhofsbrennnesseln pflückte und in einen Korb legte. Das Mädchen hatte ihn auch erblickt. Nach einem Moment des Zögerns kam es näher und setzte den Korb ab. Es achtete weder auf das seltsame Skelett noch auf das haarige Wesen, das immer noch zwischen den Zehen seiner großen Füße herumpulte.
    »Zum Vergnügen?«, fragte sie. »Oder aus Pflicht?«
    »Ääähhh. Aus Pflicht . . .« Er bezwang seine Angst, als er verstanden hatte, was sie meinte.
    »Mein Bruder . . . Sie haben meinen Bruder erschlagen. Hier liegt er . . .«
    »Aha.« Sie strich sich die Haare aus der Stirn. »Und ich sammle hier Brennnesseln.«
    »Um daraus Hemden zu flechten«, seufzte er nach einer Weile und riet weiter: »Für deine Brüder, die in Schwäne verwandelt wurden?«
    Sie schwieg lange.
    »Du bist seltsam«, meinte sie schließlich. »Die Brennnesseln sind für das Leinen. Für Hemden, aber nicht für meine Brüder. Ich habe keine Brüder. Und selbst wenn ich welche hätte, würde ich ihnen nicht erlauben, solche Hemden anzuziehen.«
    Sie lachte hellauf, als sie sah, was er für ein Gesicht machte.
    »Was redest du denn überhaupt mit dem, Elisa?«, erkundigte sich das zahnbewehrte Etwas aus dem Dunkel. »Ist es nicht schade um jedes Wort? Am Morgen kommt Regen und spült sein ganzes Salz davon. Dann kann man ihm den Kopf abbeißen.«
    »Das ist nicht in Ordnung«, sagte das Skelett besorgt, ohne den Kopf zu heben. »Das ist nicht in Ordnung.«
    »Gewiss nicht«, stimmte ihm das Elisa genannte Mädchen zu. »Das ist doch Toledo. Einer von uns. Und wir sind nur noch so wenige.«
    »Er wollte mit einem Toten reden«, erklärte der Zwerg mit den unter der Oberlippe hervorstehenden Zähnen, der wie aus dem Boden gewachsen vor ihm stand. Er war rund wie ein Kürbis, und sein nackter Bauch schaute unter einer viel zu kurzen, zerlumpten Weste hervor.
    »Er wollte mit dem Toten reden«, wiederholte er. »Mit dem Bruder, der hier begraben liegt. Er wollte eine Antwort auf seine Frage. Aber er hat sie nicht bekommen.«
    »Dann muss man ihm helfen«, sagte Elisa.
    »Gewiss«, sagte das Skelett.
    »Klar, quakquak«, sagte die Kröte.
    Blitze zuckten über den Himmel, Donner grollte. Windbrach los, rauschte in den Zweigen und wirbelte die trockenen Blätter und den Staub herum, dass sie im Kreise tanzten. Elisa stieg ohne zu zögern über das verstreute Salz hinweg und versetzte Reynevan einen heftigen Stoß vor die Brust. Er fiel auf den Grabhügel und schlug mit dem Rücken gegen das Kreuz. Vor seinen Augen wurde es erst hell, dann dunkel, dann leuchtete es wieder auf, aber diesmal war es ein Blitz.
    Die Erde unter seinem Rücken schwankte und begann sich zu drehen.
    Ringsherum gaukelten Schatten, tanzten Schemen in zwei sich gegeneinander bewegenden Kreisen um Peterlins Grab.
    »Barbelo, Hekate, Holda!«
    »Magna Mater!«
    »Heia!«
    Der Boden unter ihm

Weitere Kostenlose Bücher