Narrenturm - Roman
schwankte und neigte sich so stark, dass sich Reynevan heftig mit beiden Händen abstützte, um nicht abzurutschen und herunterzufallen. Vergeblich suchten die Beine Halt. Gesang und Laute dröhnten ihm ins Ohr. Die Gestalten brannten sich seinem Blick ein.
Veni, veni, venias,
ne me mori, ne me mori facias!
Hyrca! Hyrca! Nazaza!
Trillirivos! Trillirivos! Trillirivos!
Adsumus,
spricht Parzival, als er vor dem Gral kniet.
Adsumus,
wiederholt Moses, als er von der Last der Steintafeln gebeugt den Berg Sinai hinabschreitet.
Adsumus,
spricht Jesus, als er unter dem Kreuz zusammenbricht.
Adsumus,
wiederholen im Chor die um den Tisch versammelten Ritter.
Adsumus! Adsumus!
Hier sind wir, Herr, versammelt in deinem Namen.
Das Echo hallt durch die Burg wie grollender Donner, wie der Widerhall einer fernen Schlacht, wie der dumpfe Klang eines gegen ein Stadttor gerammten Sturmbocks. Und verliert sich allmählich in den dunklen Korridoren.
Es kommt der
Viator,
der Wanderer, spricht das junge Mädchen mit dem Fuchsgesicht und den unterlaufenen Augen, das einen Kranz aus Verbenen und Klee trägt. Einer geht, einer kommt!
Apage! Flumen immundissimum, draco maleficus . . .
Frage nicht nach dem Namen, er ist ein Geheimnis. Aus dem, was verschlingt, kam das, was sich nährt, und aus dem Starken kam die Süße. Wer trägt die Schuld? Der, der die Wahrheit sagt.
Sie werden zusammengetrieben, in Kerker geworfen, in Gefängnissen verwahrt und nach langen Jahren bestraft. Hüte dich vor dem Mauerläufer, hüte dich vor der Fledermaus, hüte dich vor dem Dämon, der am Mittag zerstört, hüte dich vor dem, das in der Dämmerung kommt. Die Liebe, spricht Hans Mein Igel, die Liebe rettet dir das Leben. Bereust du, fragt das nach Kalmus und Minze duftende Mädchen. Bereust du? Das Mädchen ist nackt, nackte, unschuldige Nacktheit,
nuditas virtualis.
Sie ist im Dunkel kaum zu sehen. Aber so nah, dass man ihre Wärme spürt.
Sonne, Schlange und Fisch. Schlange, Fisch und Sonne ins Dreieck geschrieben. Der Narrenturm fällt, die
turris fulgurata
stürzt zusammen, der Turm, vom Blitz getroffen. Der arme Narr fällt mit ihm, er stürzt hinunter, ins Verderben. Ich bin dieser Narr, schießt es Reynevan durch den Kopf, der Narr und der Tor, ich falle, ich stürze in die Tiefe, ins Nichts.
Ein Mensch, ganz in Flammen, läuft über eine dünnen Schneedecke. Eine Kirche im Feuer.
Er schüttelte den Kopf, um die Bilder loszuwerden. Und dann, im Licht des folgenden Blitzes, erblickte er Peterlin.
Die Erscheinung, unbeweglich wie eine Statue, wurde plötzlich von unnatürlichem Licht erhellt. Reynevan konnte erkennen, dass dieses Licht – wie Sonnenstrahlen durch eine löchrige Hüttenwand – durch die zahlreichen Wunden des Körpers, durch Brust, Hals und Bauch hindurchschien.
»O Gott, Peterlin . . .«, brachte er stöhnend hervor, »wie furchtbar haben sie dich . . . Dafür werden sie bezahlen, dasschwöre ich! Ich räche dich . . ., ich räche dich, mein Bruder . . . Ich schwör’s!«
Die Erscheinung machte eine heftige Gebärde. Ganz deutlich abwehrend, verneinend. Ja, das war Peterlin, niemand anders außer dem Vater gestikulierte so, wenn er Einhalt gebieten oder etwas verwehren wollte, wenn er den kleinen Reynevan für Streiche oder verrückte Einfälle bestrafte.
»Peterlin . . . mein Bruder . . .«
Dieselbe Geste, noch abweisender und ungestümer. Keinen Zweifel lassend. Eine Hand, die nach Süden wies.
»Fliehe!«, ließ sich die Erscheinung mit der Stimme Elisas mit den Brennnesseln vernehmen. »Fliehe, Kleiner. Weit weg. So weit es geht. Hinter die Wälder. Bevor dich das Loch des Narrenturms verschlingt. Flieh, lauf über die Berge, spring über die Hügel,
saliens in montibus, transiliens colles.
«
Die Erde begann sich wie wild zu drehen. Dann war alles vorüber. Dunkelheit breitete sich aus.
In der Morgendämmerung weckte ihn der Regen. Er lag mit dem Rücken auf des Bruders Grab, steif und starr, und die Regentropfen sprühten ihm ins Gesicht.
»Erlaube, junger Freund«, sagte Otto Beess, der Kanonikus von St. Johannes dem Täufer und Präpositus des Breslauer Domkapitels. »Erlaube, dass ich kurz rekapituliere, was du mir vorgetragen hast und was zur Folge hat, dass ich meinen eigenen Ohren nicht mehr traue. So hat also Konrad, der Bischof von Breslau, der die Möglichkeit hatte, den Sterz’, die ihn aus tiefer Seele hassen und die er ebenso glühend hasst, ans Leder zu gehen, rein gar nichts
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